Warum Verschwörungstheorien gegenwärtig sehr präsent sind? "Je mehr wir wissen, desto deutlicher wird, wie viel wir nicht verstehen", sagt Didier Fassin.
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Von der Trabantenstadt in der Pariser Banlieu bis nach Princeton: Didier Fassin hat sich aus einfachen Verhältnissen zu einem der renommiertesten Kulturanthropologen der Welt hochgearbeitet. Zunächst als Arzt ausgebildet und in Indien und Tunesien tätig, hat er auf Basis von Feldforschungen in Afrika, Südamerika und Frankreich wichtige Beiträge zum Verständnis gesellschaftlicher Probleme im Umkreis von Gesundheit, Recht und Ungleichheit vorgelegt. Zuletzt mit kritischen Studien zu Polizei, Gefängnis und Strafjustiz hervorgetreten, hielt er vergangene Woche die heurige Eric Wolf Lecture zum Thema Verschwörungstheorien.

STANDARD: Angesichts der Anschläge in Christchurch, El Paso und Halle – erleben wir gegenwärtig ein Comeback von Verschwörungstheorien?

Fassin: Tatsächlich scheint es gerade eine Explosion von Verschwörungstheorien zu geben. Dennoch würde ich nicht von einem Comeback sprechen. Verschwörungstheorien gibt es schon sehr lange, unsere Zeit ist da nicht so besonders, wie sie scheinen mag. Es gab und gibt sie auch in anderen Weltteilen, etwa im muslimischen Raum, in Afrika oder Asien. Zweifelsohne sind sie gegenwärtig aber sehr präsent.

STANDARD: Woher rührt diese Präsenz?

Fassin: Verschwörungstheorien zirkulieren durch technologische Neuerungen schneller denn je. Bei Google-Suchen und auf Facebook wird man zu Themen wie 9/11 schnell mit ihnen konfrontiert, Bots verbreiten sie automatisiert. Daneben gibt es aber auch historisch-gesellschaftliche Bedingungen, die zum gegenwärtigen Erfolg von Verschwörungstheorien beitragen. Wir leben in einer paradoxen Zeit: Während viele Regierungen und Organisationen transparenter werden wollen, haben viele Menschen den oft nicht unberechtigten Eindruck, ihnen würde etwas vorenthalten.

STANDARD: Warum sind Verschwörungstheorien gerade jetzt so erfolgreich, wo wir doch mehr Informationen denn je haben?

Fassin: Die Welt ist heute weniger lesbar. Das liegt nicht unbedingt daran, dass sie komplexer geworden ist. Das mag zwar so sein. Entscheidender scheint mir aber, dass sie stärker vernetzt ist. Vor 50 Jahren wussten wir nicht, was gerade in Washington oder Syrien passiert. Nun sind wir darüber in Echtzeit informiert, aber damit ist auch die Unsicherheit gewachsen: Je mehr wir wissen, desto deutlicher wird, wie viel wir nicht verstehen. Die Stärke von Verschwörungstheorien liegt darin, dass sie diese Unsicherheit beseitigen, indem sie alles bis ins kleinste Detail erklären.

STANDARD: Wie kann man erklären, dass Menschen an oft abstrus scheinende Theorien glauben?

Fassin: Es gibt dazu Ansätze aus der empirischen Psychologie. Der Glaube an Verschwörungstheorien wird hier durch Phänomene wie Gruppenpolarisierung erklärt, der zufolge sich in Diskussionen extreme Ansichten durchsetzen und verstärken. Das ist für mich aber nicht so interessant, weil es universelle Effekte sind, die es so schon immer und überall gab. Als Kulturanthropologe und Soziologe versuche ich, Verschwörungstheorien stattdessen aus ihren spezifischen geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen heraus zu verstehen. Aus dieser Perspektive erscheinen sie nicht einfach nur abstrus, sondern können uns viel über die Gesellschaften verraten, in denen sie erzählt werden. So irrational sie auch scheinen mögen, als Sozialwissenschafter sollten wir sie ernst nehmen und fragen, was sie bedeuten, statt sie zu verunglimpfen oder lächerlich zu machen.

STANDARD: Was können wir aus Verschwörungstheorien lernen?

Fassin: Sie reflektieren häufig Unterdrückungsverhältnisse und Ängste, die es in einer Gesellschaft gibt. Verschwörungstheorien können sehr konkrete Dinge über die Menschen verraten, die sie erzählen. Sie sind dann wie ein Prisma, das uns ihre Weltsicht, Geschichte und Erfahrungen aufschlüsselt. Die Grenze zwischen abstrusen Theorien und erwiesenen Fakten ist dabei oft weniger scharf, als man denkt. Verschwörungstheorien enthalten oft Momente von Wahrheit, weil sie Elemente der Realität rekombinieren. Ich denke hier vor allem an meine Feldforschung in Südafrika, das sich vom westlichen Kontext sehr unterscheidet.

STANDARD: Ein Beispiel?

Fassin: In den Townships kursierten unter der afrikanischen Bevölkerung viele Verschwörungstheorien über Aids. Hinter der Krankheit wurden Weiße vermutet, die sie unterdrücken wollen, oder große Pharmakonzerne, die Schwarze als Versuchskaninchen nutzen. Die meisten Forscher taten das als irrational ab. Doch so abstrus diese Theorien auch klingen mögen, so hatten sie doch einen konkreten Hintergrund. Epidemien und das Gesundheitswesen wurden in Südafrika lange dazu benutzt, die schwarze Bevölkerung zu diskriminieren und zu unterdrücken. So begann die räumliche Segregation der afrikanischen Bevölkerung bei einer Pestepidemie in Kapstadt 1900 mit dem Vorwand, sie würde die Krankheit verbreiten – obwohl damalige Aufzeichnungen nahelegen, dass Weiße stärker betroffen waren. Später dienten Ausbrüche von Influenza, Tuberkulose, Syphilis und auch Aids auf ähnliche Weise als Rechtfertigung für solche Maßnahmen. Die Skepsis gegenüber der Medizin hat in der afrikanischen Bevölkerung also eine lange Vorgeschichte.

STANDARD: Artikuliert sich in Verschwörungstheorien insoweit auch legitime Kritik?

Fassin: Wie das Beispiel zeigt, können sie eine tiefere Wahrheit enthalten. Ähnlich könnte es sich mit der gegenwärtigen Krise der Autorität verhalten. Regierungen, Wissenschafter und etablierte Medien galten lange als diejenigen, die verbindlich sagen, was in der Welt los ist. Nun werden sie nicht zuletzt durch Verschwörungstheorien stark angefochten. Ich will sie gewiss nicht verteidigen oder ihre oft diskriminatorische Dimension unterschlagen, aber es könnte gesund sein, die ihnen zugrunde liegende Kritik ernst zu nehmen, statt sie einfach in Gänze abzutun. Wenn Verschwörungstheorien uns dazu bringen, hergebrachte Autoritäten zu hinterfragen, könnten sie zu einer Vertiefung von Demokratie beitragen. Zudem könnten sie unser Denken über die Welt bereichern, indem sie zu stark vereinfachende Ansichten über Wahrheit und Falschheit in Zweifel ziehen. (Miguel de la Riva, 2.11.2019)