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Auch bei vielen Nordmazedoniern steht die EU eigentlich hoch im Kurs.

Foto: AP / Boris Grdanoski

Es ist so ähnlich, als würde ein Rauchfangkehrer sich selbst den Besen zerbrechen und danach einfach kein Werkzeug mehr haben, um den Ruß aus dem Kamin zu fegen. Keiner wird ihn mehr ins Haus lassen, weil er als Handwerker nutzlos geworden ist. Die EU hat sich kurz vor dem Arbeitsbeginn der neuen Kommission ihr wichtigstes und bisher effektivstes außenpolitisches Werkzeug aus der eigenen Hand geschlagen: eine glaubwürdige Perspektive für EU-Aspiranten im Austausch für eine Transformation in Richtung einer liberalen Marktwirtschaft und offenen Gesellschaft.

Weil Frankreich dem Modellland auf dem Balkan, nämlich Nordmazedonien, kürzlich endgültig die Aufnahme von EU-Verhandlungen versagte, obwohl anderes versprochen worden war, glaubt nun niemand mehr in Südosteuropa, dass irgendein Versprechen aus Brüssel ernst genommen werden kann. Die Erweiterung ist tot.

"Wir kümmern uns um uns selbst"

Die Konsequenzen sind bereits sichtbar. Serbien, das zwar schon seit 2014 mit der EU Verhandlungen führt, aber in den vergangenen beiden Jahren keine maßgeblichen Reformen mehr machte, hat sich bereits abgewandt. In seinem jüngsten Interview mit dem STANDARD sagte Präsident Aleksandar Vučić: "Die Leute hier wollen besser leben, und sie wollen, dass wir europäische Regeln einführen, aber ihnen ist vor allem der Lebensstandard wichtig. Und das ist es auch schon. Das Nein zu den EU-Verhandlungen wird in Serbien dazu führen, dass die EU noch unpopulärer wird und man weniger Vertrauen hat." Dann fügte er hinzu: "Wir kümmern uns um uns selbst. Und wir haben auch gute Beziehungen zu China, Russland und der Türkei."

Handelsvertrag

Vergangene Woche hat die serbische Regierung bereits einen Freihandelsvertrag mit der Eurasischen Union abgeschlossen – obwohl dies nicht mit einem möglichen EU-Beitritt kompatibel ist und Brüssel davor gewarnt hat.

Serbien wendet sich also vermehrt den Alternativmächten zu, weil sich die EU abwendet. In Serbien, Montenegro und dem bosnischen Landesteil Republika Srpska ist der politische Einfluss des Regimes von Wladimir Putin ohnehin bereits groß. Wegen der Entscheidung Frankreichs treibt die EU diese Regierungen auf dem Balkan noch weiter in die Arme des autoritären Herrschers in Moskau. Das ist schlicht kontraproduktiv für die Interessen der EU. Über die Sberbank-Kredite hat Moskau auch längst mehr als einen Fuß im EU-Mitglied Kroatien.

Ignoranz und Unwissenheit in Frankreich

Sicherlich wäre einiges an der Erweiterungsstrategie der EU verbesserungswürdig gewesen. Außer in Nordmazedonien und in einem etwas geringeren Ausmaß in Albanien hat es Brüssel nicht geschafft, dass die zentralen Probleme adressiert werden: die Vetternwirtschaft und Korruption im Justizbereich. Man kann durchaus argumentieren, dass die Verhandlungen mit Serbien und Montenegro deshalb auf Eis gelegt werden sollten. Insofern kann man die Bedenken aus Paris nachvollziehen.

Doch umso mehr müsste man jenes Land – nämlich Nordmazedonien – belohnen, das unpopuläre Maßnahmen durchsetzte, sich unter Müh und Weh einen neuen Staatsnamen zulegte, mit den Nachbarn aussöhnte, aber auch gegen Amtsmissbrauch und Nationalismus vorgeht. Doch die französische Regierung zerstörte nun die Bemühungen der EU-Kommission, diesen Weg weiterzugehen, aus einer Mischung aus Ignoranz und Unwissenheit. Und Frankreich unterstützt damit indirekt die jetzige Oppositionspartei VMRO-DPMNE, die jahrelang vor allem mit Korruption, Amtsmissbrauch und autoritärer Regierungsführung auffiel.

Parteipolitisches Kalkül

Nun könnten die alten korrupten Netzwerke wieder zurückkehren. Die nationalkonservative VMRO hat auch einen weiteren Vorteil: Sie ist Teil der Familie der Europäischen Volkspartei (EVP). Diese Nähe zu der mächtigen konservativen Fraktion in der EU ist offensichtlich ein zentrales Entscheidungskriterium. So wird Serbien – dort ist die EVP-nahe Fortschrittspartei an der Macht – von der EVP geradezu gehätschelt, obwohl die Regierung die Medienfreiheit und die demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien mit Füßen tritt. Die Regierungen in Nordmazedonien und Albanien hingegen finden in Brüssel weniger Gehör, weil sie von progressiven Kräften geführt werden, also nicht zur EVP gehören.

Besonders unsinnig wird dieses rein parteipolitische Kalkül, das den realen Verhältnissen keine Rechnung trägt, wenn es um die Entscheidung der EU-Kommission geht, den Kontroll- und Überwachungsmechanismus zwar für Bulgarien aufzuheben, nicht aber für Rumänien. Rumänien hat bereits seit 2007 zahlreiche rechtsstaatliche Reformen unternommen und ist vehement gegen Korruption vorgegangen, Bulgarien hinkt höchstens hinterher. Die Sozialdemokraten in Bukarest haben einige Fortschritte in den vergangenen Jahren wieder zunichtegemacht. Trotzdem ist der rumänische Rechtsstaat im Vergleich mit dem bulgarischen viel weiter entwickelt. Doch die bulgarische Regierung gehört zur EVP-Familie, die letzte rumänische nicht.

Illiberale Flanke im Osten und Südosten

Auch die Empfehlung, dass Kroatien bald dem Schengenraum beitreten kann, hat wohl viel mehr mit der richtigen Fraktionszugehörigkeit der Regierung zu tun und damit, dass Deutsche oder Österreicher gerne ohne Grenzkontrollen in den Urlaub fahren wollen, als mit der Performance der Polizei vor Ort – da braucht man nur die zahlreichen Berichte über die brutale Gewalt der kroatischen Beamten gegen Migranten zu lesen.

Die EU hat sich nicht nur ihres einzigen Instruments in der unmittelbaren Nachbarschaft selbst entledigt, sondern sich auch von ihren Prinzipien und deren ernsthafter Nachvollziehbarkeit weit entfernt. Deshalb braucht man sich nicht zu wundern, wenn die illiberale Flanke im Osten und Südosten Europas immer stärker wird. (Adelheid Wölfl, 30.10.2019)