Als das Essay-Schreiben doch noch geholfen hat: Deckblatt der aktuellen, der Jubiläumsausgabe von "Wespennest", der bis heute für sich werbenden "zeitschrift für brauchbare texte" in Wien.

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Als Textform schätzt man ihn gerade wegen seiner Beredsamkeit. Doch was den Grad der Verbindlichkeit angeht, mit der er die Sache der Wahrheit vertritt, muss der Essay gegenüber jeder wissenschaftlichen Verlautbarung klein beigegeben.

Gestandene Essayisten sind seit den Zeiten eines Michel de Montaigne, also seit dem späten 16. Jahrhundert, daran gewöhnt, im Zweifelsfall kleinere Brötchen zu backen. Mit guten Essays lassen sich mehr hungrige Mäuler stopfen, als jede systemphilosophische Backstube es vermöchte. Tatsächlich hat dem Essay seit jeher die Stunde geschlagen. Verächtern – unter ihnen nicht wenige Essayisten! – gilt die Pflege der Essaykunst als Symptom von akuter Krise. Ähnlich argumentiert der heimische Denker Wolfgang Müller-Funk in der neuen Ausgabe der Zeitschrift "Wespennest" (Nummer 177). Das Periodikum feiert sich selbst. Somit prüft es auch diejenige Textform, die seine Geschäftsgrundlage bildet.

Indem jeder Essayist, so Müller-Funk, das ausschließende "Entweder-oder" zurückweist, öffnet er Raum für die Erfahrung von Ambivalenz. Er plädiert für Widersetzlichkeit. Diese muss sich im Detail erweisen. Erst durch Erprobung und Prüfung eines beliebigen Arguments kann der Nachweis gelingen, dass die Idee von Mündigkeit alle Menschen zur Redlichkeit verpflichtet.

Immer dann, wenn mit stillschweigend vorausgesetzten Gewissheiten gebrochen wird, treten Essayisten auf den Plan. Sie huldigen in ihren Texten umso hingebungsvoller der eigenen Subjektivität, als sie darauf aus sind, ihr Denken an "großen Hauptwörtern" (Franz Schuh) zu bewähren: Furcht, Feigheit, Tod oder Freundschaft. Jede beliebige Erfahrung, ist sie nur menschlich verallgemeinerbar, scheint es wert, Gegenstand eines Essays zu werden.

Gesetz von Angebot und Nachfrage

Auch im Feld der angewandten Schreibkünste herrschen Gesetze von Angebot und Nachfrage. Nur was gern geübte Praxis ist, wird von Kennern geschätzt, von anderen vielleicht für nützlich erachtet. Insofern lässt das Themenheft des Wiener Literaturperiodikums "Wespennest" – echt nur in Kleinschreibung – ein nicht ganz reines Gewissen erkennen. Wen die Feierlaune umtreibt, den wird es nicht danach gelüsten, die Gelegenheit für ein Fest mit Grundlagenforschung zu vertun.

Dennoch, aus Anlass des eigenen 50-jährigen Jubiläums haben sich die Macher des "Wespennests" ein hervorragend gelungenes Themenheft geschenkt. Man bekommt z.B. vorgeführt, dass ein guter Essay wie eine "geniale Handtasche" (Andrea Roedig) funktioniert. Er soll nicht nur praktikabel (lehrreich) sein, sondern zu allem Überdruss auch schön und elegant. Er stellt sprachlich die "unabänderliche Gestalt" zur Schau, die "das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt" (Robert Musil).

Und doch gleicht die Unternehmung, wenigstens der Tendenz nach, einer Verlustanzeige. Nicht ohne Wehmut erinnert sich Josef Haslinger, einst das junge Gewissen in der linken "Wespennest"-Redaktion, an die Vergangenheit. Kritik an den bestehenden Verhältnissen wurde in den 1970ern und 1980ern gerne als "Finte gegen den Kopf, und als Schlag in den Magen" (Peter Turrini) geübt. Über der essayistisch geäußerten "Kritik", so Haslinger, sei der Zeitschrift gelegentlich die Literatur abhanden gekommen.

Ähnlich unbehaglich stimmen einen John Palattellas, seines Zeichens Redakteur der US-Zeitschrift The Point, Anmerkungen zur essayistischen Kultur in Donald Trumps USA. Die politische Zuspitzung drängt dort zahllose Autoren zur "Standortbestimmung". Die Zeit für Forschungsaufträge mit offenem Ende scheint vorbei. Mehr und mehr wird der Flaneur von ehedem dazu gedrängt, Botschaften zu versenden, die an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Anstatt auf Glatzen Locken zu drehen, soll er plötzlich Köpfe waschen.

Enthemmte Verlautbarungen

Der tastende Gestus gerät gegenüber solchen Verpflichtungen in Vergessenheit. Es scheint angesichts der sozialen Medien, als hätte es Virginia Woolf oder James Baldwin nie gegeben. An die Stelle des Essays tritt die enthemmte Verlautbarung in der ersten Person. Als Zeugnisse der Selbstentblößung und Provokation stellen diese Schwundformen des Essays zugleich die größte Herausforderung an ihn dar.

Die Leser sollen nicht der kompromisslosen Erforschung der Welt im Spiegel eines einzelnen Subjekts folgen. Sie sollen kleine Texte auf Websites anklicken, damit jemand anderer wertvolle Userdaten und Werbeeinnahmen sammelt. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Und früher als unbedingt nötig müssen auch die Essayisten nicht ihre vorsichtig wägende Tätigkeit einstellen. (Ronald Pohl, 30.10.2019)