Ist derjenige, der sich dem Märchen-Narrativ entzieht, ein Eskapist? Petr Manteuffel, künstlerischer Leiter des "StadTheater" in Kassel, im Gastkommentar.

Zwei Filme als Exempel: "Der junge Ahmed" der Gebrüder Dardenne ...
Foto: viennale
... und "Ich war zuhause, aber" der Regisseurin Angela Schanelec.
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Den weiblichen Blick und historischen Rückblick, die Reihe "Brasilien entflammt!", ästhetischen Eigensinn oder politische Aktualität, sowohl nationale Premieren als auch große Filme, die bei anderen Festivals in aller Welt prämiert wurden – im Zeichen der Vielfalt kommt auch die diesjährige Viennale daher. Und kündigt einen lebendigen Ausnahmezustand an. Von den andernorts Prämierten geben sich die Ehre Angela Schanelec, mit "Ich war zuhause, aber" Gewinnerin des Silbernen Bären der Berlinale, und die Gebrüder Dardenne mit "Der junge Ahmed", einer Studie über die Radikalisierung eines muslimischen Jungen, die den Preis für die beste Regie in Cannes erhielt. Durch die beiden gegensätzlichen Pole Schanelec und Dardennes stellt die Festivalleiterin quasi nebenher die Grundsatzfrage: Was machen die Macher des Spielfilms heutzutage überhaupt? Wäre die Viennale in der Art einer historischen oder Kunstausstellung kuratiert, würden die beiden Pole schon für die Füllung des Programms ausreichen.

Über die formalen Aspekte der engagierten Dardenne-Filme gibt es nicht allzu viel zu berichten, vielleicht nur die Tatsache, dass sich die Autoren dieser Aufgabe handwerklich entledigen. Ähnlich wie beim konfektionierten Actionkino nimmt ihre Kamera den Zuschauer bei der Hand oder vielmehr beim Auge und führt ihn durch die Geschichte. In die Sprache der Musik überführt, schreibt hier ein Gegenwartskomponist in der Folge von Haydns 68 Streichquartetten noch das 69. und das 650. Jede Filmszene muss ausdrücklich die Handlung nach vorn bringen, so wird es in den Drehbuchseminaren gelehrt. Zu Ende gedacht, gerät die Filmarbeit selbst zum echten Abbild des Arbeitslebens – was nicht nützlich ist, soll weg; eine Kapitalisierung des Denkens setzt ein, sie ist Hollywood und den Filmen der Dardennes mit ihrem sozialpädagogischen Impetus gemeinsam, denn beider Haltung zur Welt ist nun einmal vom Utilitarismus geprägt.

Epilepsieträchtige Bilderkaskaden

Wie viel Erläuterung der Handlung und der Charaktere benötigen wir auf der Skala von Buñuels assoziativem "Andalusischem Hund" über Tarkowskis "Stalker" bis hin zum öffentlich-rechtlichen Märchen? Nehmen wir als ein Gegenbeispiel zu den Dardennes den "Traumhaften Weg" Schanelecs aus dem Jahr 2016, den die Viennale im Rahmen der Werkschau der Regisseurin zeigt. Eine Frau in blauem Rock und Uniformjacke mit der Aufschrift "Polizei" wandert einen Hügel hinauf, aus dem Rock weht ein Streifen Toilettenpapier hinter ihr her. Sie ist nämlich keine Polizistin, sondern eine die Polizistin spielende Schauspielerin. Von der Seite taucht die Kostümbildnerin auf und nimmt das Papier weg. Ohne zu reagieren, wandert die Schauspielerin eine geraume Zeit weiter hinauf; warum nicht schon viel früher der Schnitt erfolgt, erschließt sich nicht unbedingt. Die Doppelung der Bildbedeutungen erinnert stark an die Filme Godards der Achtzigerjahre. In anderen Einstellungen spart die Kamera das Zentrum des Geschehens aus wie bei einer züchtig angedeuteten Sexszene. Die Figuren bewegen sich und reagieren noch eine Spur verlangsamter als sonst in deutschen Filmdramen. Konsequent verweigert uns die Regisseurin die naive Illusionswirkung der Inszenierung.

Wenn wir vor mittelalterlichen Altären stehen, sehen wir zunächst Bilder und Gold, hauptsächlich aber verfolgen wir dabei Comics, denn die Gemeinde der Gläubigen war mehrheitlich analphabetisch. Die Bilder dienten dazu, ihr das Neue Testament und die Heiligengeschichten in dieser Form zu schildern. Das 21. Jahrhundert bringt spätestens im Zuge der Smartphone-Revolution die Dominanz der Bilder zurück. Milan Kundera hat diese neue Ära in seinem Roman "Die Unsterblichkeit" vorweggenommen und darin die Vorherrschaft der Bilder als Informationsträger mit dem Namen Imagologie belegt. Die Imagologie bricht die Ausführungen der Ideologie auf das Wesentliche herunter, so etwa ersetzten eine geballte Arbeiterfaust oder die Silhouette Che Guevaras auf dem Plakat viele ausufernde Wälzer wie Marxens "Das Kapital". Es ist die gleiche Erzählung wie die Darstellungen Marias, den Nacken gebeugt, den devoten Blick unbestimmt aufs Baby gerichtet, das sie in den Armen hält. In den Passagen der Musikvideos zu guter Letzt, wo die epilepsieträchtigen Bilderkaskaden kurz innehalten, zeigt eine Rappergestalt auf dich mit ausgestreckter Hand – du bist gemeint!, und diese Geste der Aufforderung ist wichtiger als die Botschaft, zu der aufgefordert wird.

"Das öffentliche Leben gerät zum Märchencomic und greift in dieser Form an allen Ecken und Enden aufs Private über."

Geschichten hat es schon in vorgeschichtlicher Zeit gegeben, und auch in Ray Bradburys nachgeschichtlicher Science-Fiction "Fahrenheit 451", worin Feuerwehrleute als eine Art Gedankenpolizei sämtliche Bücher verbrennen, sitzt am Ende eine Gruppe Dissidenten am Ufer eines Flusses und jeder von ihnen verkörpert einen Teil eines Romans oder Theatertextes, den er behalten hat. Aus Kameraeinstellungen legen wir uns im Kopf die Filmhandlung zusammen, aus einer Abfolge optischer, akustischer und taktiler Wahrnehmungen entsteht die Realität und damit die Story unseres Lebens, worin jede Situation dazu dient, die Handlung nach vorn zu bringen. Und je weniger prägnant wir die Story selbst gestalten können, umso mehr wird eine Konfektionierung helfen, denn: Das menschliche Leben ist eine Tragödie, aber nicht jedem hat sie ein Sophokles geschrieben (S. J. Lec). Der Verlauf gestaltet sich interaktiv, aber die Anzahl der Varianten ist am Ende geringer, als wir mit fünfzehn angenommen hätten; der amerikanische Professor für Medien und Theater Ronald B. Tobias etwa geht von zwanzig Grundgeschichten aus, der Autor Christopher Booker zählt derer sieben. Zudem wollen auf Facebook, Instagram und in der "Kronen Zeitung" diese paar Ereignisse in schmackhafte Häppchen portioniert sein, mit klarer Abgrenzung von Gut und Böse.

Das öffentliche Leben gerät zum Märchencomic und greift in dieser Form an allen Ecken und Enden aufs Private über. Auf den Straßen und in den Büros der Start-ups laufen und sitzen hinter Computerbildschirmen Mangafiguren jeglichen Geschlechts mit Bommeln und Dutts auf dem Kopf, saugen ihre Erfrischungsgetränke auf dem Sportplatz und in der S-Bahn aus Nuckelflaschen. Für die Personen der Zeitgeschichte empfiehlt sich demgegenüber ein besonderes Erkennungsmerkmal, wie die Avatare des Hollywood-Kinos eines von den Drehbuchautoren verordnet bekommen, um sie auseinanderhalten zu können, etwa einen Tic, den Hang zu Heulkrämpfen oder zwei unterschiedlich farbige Augen. Der Investmentbanker Emmanuel Macron hätte es ohne die Verbindung mit seiner 24 Jahre älteren Ehefrau kaum zum Präsidenten gebracht. Zum Erfolg braucht es eine gute Geschichte, so wird es in den Kommunikationsseminaren gelehrt. Die reichlich frisierte Geschichte Donald Trumps ist die vom Beinahe-Tellerwäscher zum Millionär. Jene der Greta Thunberg ist die des mutigen, wenn schon weißen, dann eben leicht behinderten Mädchens (ein gesunder Durchschnittsjunge würde sich dafür nicht eignen). Als eigene Märchenerzählerin hat wiederum Angela Merkel die Deutschen für lange Zeit in einen nahe ans Wachkoma grenzenden Zustand geredet – achten Sie einmal auf ihre einfach strukturierte Syntax, den besonnenen Ton leisen Bedauerns und die abfallende Intonation am Ende jedes Satzes. Mittlerweile haben sich in Deutschland diese Intonation zahlreiche Rundfunk- und Fernsehsprecherinnen und Sprecher angeeignet.

Ein vereinzeltes Ich

Einen Menschen, der sich dem Narrativ des Märchens zu entziehen sucht, nennt man einen Eskapisten; er ist ein vereinzeltes Ich, das aus den Reihen des Fort- oder Rückschritts ausschert. Was bleibt ihm übrig, denn als Bäcker trotz der Handelsketten ordentliches Brot zu backen, sich im Schrebergarten einzugraben oder als Arzt trotz der Eingriffe der Krankenkassen die Patienten ordentlich zu behandeln? Das mag zugegebenermaßen vielen recht langweilig vorkommen. Über die Arbeit des Literaten sagt Max Frisch in seiner berühmten, also gern vergessenen Büchner-Preis-Rede: "Wir können das Arsenal der Waffen nicht aus der Welt schreiben, aber wir können das Arsenal der Phrasen durcheinanderbringen, je klarer wir als Schriftsteller werden ... je absichtsloser in jener bedingungslosen Aufrichtigkeit gegenüber dem Lebendigen." Die einzig richtigen und gerechten Sachen erweisen sich hingegen regelhaft nach wenigen Jahrzehnten als ziemlich fatale Irrtümer und Unglücke. Das wusste übrigens, 1967, auch Peter Handke, als er in seinem Essay "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" schrieb: "Ich erwarte von der Literatur ein Zerbrechen aller endgültig scheinenden Weltbilder." Handke – ein Solitär? Womöglich dürfte seine logische Nachfolge die künstliche Intelligenz übernehmen, die ja mit ihrer Komplexität mittlerweile jeden Schachweltmeister schlägt. (Petr Manteuffel, 29.10.2019)