Diese fünf Freunde wollen die Welt verbessern.

Foto: Netflix

Irgendwann verschwimmen die Grenzen zwischen Aktivismus und Terrorismus.

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Um diesen Film kamen Schüler in den 1980er-Jahren und danach nicht her um: Die Welle erzählt von einem erstmals 1967 in den USA durchgeführten Sozialexperiment, in dem gezeigt wird, wie scheinbar einfach aus unbedarften jungen Menschen blinde Anhänger von autokratischen Führungsfiguren werden können. Das Experiment geriet außer Kontrolle und wurde nach fünf Tagen abgebrochen.

In den Klassenzimmern wurde referiert und diskutiert. Man war betroffen, weil es so nachvollziehbar schien: ein toller Lehrer, der in fünf Tagen aus völlig normalen Schülern radikalisierte Bestien machte und ein Regime erschuf, das an Hitlerdeutschland erinnerte. Es war irgendwie der Erstkontakt mit dem Schurken in jedem von uns – verstörend!

"Wie weit würdest du gehen?", fragt die Gymnasiastin Lea in Wir sind die Welle, der deutschen Netflix-Serie, die ab Freitag das aufwühlende Sozialexperiment in sechs Folgen ins heutige Deutschland übersetzt. Die neue Ausgangssituation: Aus den Schülern werden diesmal keine Nazis, sondern fanatisierte Umweltkämpfer, die permanent Grenzen überschreiten, bis die Gewalt eskaliert.

Lea, Zazie, Hagen und Rahim (Luise Befort, Michelle Barthel, Daniel Friedl und Mohamed Issa) gehören zu den Außenseitern der Schule und sind von den Ideen des charismatischen Tristan (Ludwig Simon) schnell begeistert. Tristan ist der Neue am Gymnasium. Ein Nerd, spricht Arabisch, kann Klavier (Für Elise), kennt sich in Geschichte aus und schaut ziemlich süß aus. Findet Lea, die nicht nur an Tristan, sondern auch an dessen Ideen Gefallen findet. Tristan schenkt Lea ein konsumkritisches Buch mit dem Titel Logos? Nein danke. Lea, Kind aus gutem Hause, verschlingt es und sortiert erst einmal ihren Kleiderkasten aus. Den Tennisunterricht mit ihrem schmalzigen Freund schwänzt sie, denn Tristan hat einiges vor. Es geht darum, das Establishment zu fordern, und das machen sie mit lustigen Aktionen.

"Viva la revolución!"

In sozialen Medien wird die Bewegung schnell bekannt, und die fünf sind bald Helden in sozialen Medien: "Viva la revolución!" Sie sind auf der perfekten Welle. Spaß, Chaos, Peace, Love, Rock ’n’ Roll – und Tristan will mehr: etwas verändern, hier und jetzt. Zwischen ihm und Lea knistert es, das macht die Sache nur noch spannender.

Und so wählen sie ihre Ziele aus: coole Protestaktionen gegen Plastikmüll, Burger-Ketten, Wegwerfmode, Massentierhaltung und AfD. Werbewirtschaft, Konsum, alle bekommen richtig eingeschenkt. Aus den Außenseitern werden Idole, und sie werden mehr. Aus den fröhlichen Aktivisten werden gewaltbereite, maskierte Attentäter. "Aus der Welle wird ein Tsunami", schwärmen sie begeistert. Aber wie stoppt man einen Tsunami?

Aus der Sicht von Netflix am besten gar nicht. Der Streamingdienst pumpt seit 2017 Serienstoff für junge Erwachsene ins Angebot. Nach dem Erfolg von 13 Reasons Why wurde eine Kundengruppe definiert, die sich von linearen Angeboten nicht mehr angezogen fühlt, sondern in digitalen Räumen unterwegs ist, wo sie sich gern und intensiv über das Gesehene austauscht. Für eine Plattform, die mit Zuschauer zahlen generell geizig umgeht und Serienerfolge am Rauschen in sozialen Medien misst, wurde daraus ein intensiv bespieltes Geschäftsfeld. Beispiele: Stranger Things, Sex Education, Chilling Adventures of Sabrina, Élite, The End of the F***ing World. Die neue Welle ist die erste deutsche Netflix-Serie dieser Art. Ausführender Produzent ist Dennis Gansel, der 2008 bei einer zweite, vielgelobten Welle-Version Regie führte. Die Drehbücher stammen von Jan Berger, zuletzt involviert im Udo-Jürgens-Musical Ich war noch niemals in New York.

Es ist ein kühner Schritt, dass Wir sind die Welle nicht die Nazi-Thematik als Vehikel nimmt, sondern Themen, für die Schüler derzeit tatsächlich bereit sind, einiges zu tun. Die Frage, ob Idealismus besser ist, wenn man für die "richtigen" Ziele kämpft, möge fortan eifrig besprochen werden. Für Diskussionen in realen und virtuellen Klassenzimmern ist gesorgt. (Doris Priesching, 30.10.2019)