Dürrenmatts Ethikunterricht landet in Graz in der feministischen Theaterzentrifuge.

Foto: Johanna Lamprecht

Die Verrückten sind los. In Friedrich Dürrenmatts schon ein wenig kaputtgespielten Physikern (1962) ziehen drei Insassen eines psychiatrischen Sanatoriums alle Register. Weil sie sich für die Wissenschafter Einstein, Newton und Möbius halten und um ihre Formeln fürchten, befördern sie nahestehende Pflegekräfte sicherheitshalber in die ewigen Jagdgründe. Am Schauspielhaus Graz unternimmt Regisseurin Claudia Bossard noch ein paar Winkelzüge mehr.

In ihrer großformatigen, ganz in Anstaltslindgrün getauchten Inszenierung dreht sie die Ethikkritik Friedrich Dürrenmatts (nicht alles Wissen ist gut: Atombombe) weiter und verlängert den Stoff des Stücks um eine Reflexion des Wissenskanons in die Gegenwart. Eine travestiehafte Besetzung von Fräuleins, Schwestern und Wissenschaftern lockert dabei die jeweiligen geschlechtsstereotypen Zuschreibungen gewinnbringend auf.

Helle Freude mit Schlenkern

Es ist eine helle Freude, in die Diskrepanzen zwischen der Figur und den darstellenden Schauspielerkörper hineinzuschauen. Wie überhaupt der ganze Abend kräftig umrührt und kanonisierte Heroen wie Einstein dem feministischen Blick aussetzt. Der besagt, dass Einstein seine Formel und den Nobelpreis zu einem Gutteil auch seiner totgeschwiegenen Frau Mileva Marić zu verdanken hat.

Die Bühnenfassung (Dramaturgie: Jennifer Weiss) macht da im Sinne Dürrenmatts einige abenteuerliche Schlenker. Immer mehr schraubt sich dabei die Drehbühne, auf welcher sich der hoch aufragende Villenstuck bald als brüchige Fassade offenbart, in eine Eskalation, bei der sich die "Wahrheit" mehrfach dreht. Am Ende macht ein kleiner bewaffneter Tarantino-Showdown den Kehraus. Näher ist Dürrenmatt James Bond nie gekommen. Fabelhaft. (afze, 30.10.2019)