Aus Kommentaren internationaler Tageszeitungen zu den Neuwahlen in Großbritannien:

"The Times" (London): Johnsons Glücksspiel

Albtraum oder endlich Klarheit? Das Vereinigte Königreich wählt am 12. Dezember.
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"Boris Johnson setzt bei seinem Glücksspiel darauf, dass die Wähler bei der Stimmabgabe in sechs Wochen die Opposition für die Tatsche verantwortlich machen werden, dass der Brexit nicht geliefert wurde. Dadurch, so wird er immer wieder behaupten, sei das Land zu weiteren drei Monaten einer lähmenden Unsicherheit verurteilt worden. (...)

Wie es aussieht, wird das Land zu einer Zeit wählen, in der es zerstrittener denn je ist und alle Brexit-Optionen noch immer auf dem Tisch liegen. Wenn die Aussicht auf eine Rückkehr der Abgeordneten nach Westminster im Dezember mit der erneuten Gefahr eines No-Deal-Brexits und weiter anhaltender Unsicherheit die Wähler nicht dazu veranlassen sollte, für ein klares Ergebnis zu sorgen, dann ist nur schwer vorstellbar, was sonst dies bewirken könnte."

"The Guardian" (London): Abneigung und Schwindel

"Die größte Aufgabe der nächsten Regierung wird es immer noch sein, mit der Spannung zwischen der auf einer Volksabstimmung beruhenden Forderung nach dem EU-Austritt und dem Verlangen des Parlaments nach dem am wenigsten schädlichen Brexit-Kompromiss umzugehen. Dennoch werden auch etliche weitere Themen im Vordergrund stehen: Wirtschaft, Ungleichheit, Sparpolitik.

Im rechten Spektrum scheinen führende Personen wie Boris Johnson und Nigel Farage Teile der Wählerschaft zu verschrecken und abzustoßen. Ihnen stehen Politiker gegenüber, die viele Wähler Umfragen zufolge nicht mögen oder denen sie nicht trauen. Wenn einem davon noch nicht schwindlig wird, dann sollte man sich schon mal für den bevorstehenden Wirbel rüsten, bei dem Geschichte geschrieben wird."

"Die Welt" (Berlin): Die Vernichtung von Labour?

"Wen die Götter vernichten wollen, den machen sie zuerst wahnsinnig. Wollen die Götter die Labour Party vernichten? Anders kann man nicht erklären, weshalb Labour-Chef Jeremy Corbyn einer Parlamentswahl im Dezember zugestimmt hat. In seiner eigenen Partei gibt es dagegen Widerstand. Doch für Europa wäre das eine gute Nachricht. Corbyn, der auch außenpolitisch unzuverlässig ist und überdies ein Antisemitismusproblem hat, ist der unpopulärste Labour-Chef aller Zeiten. Eine erwartbare Labour-Niederlage dürfte den gemäßigten Kräften in der Partei die Möglichkeit geben, ihn zu stürzen und an den Wiederaufbau einer Partei der Vernunft zu gehen.

Zudem könnte eine starke liberaldemokratische Fraktion zusammen mit einer dann vernünftigeren Labour Party und den proeuropäischen Kräften bei den Konservativen dafür sorgen, dass die künftigen Beziehungen Großbritanniens zur EU enger bleiben, als es die harten Brexiteers wollen. Der biegsame Boris Johnson könnte damit leben."

"De Telegraaf" (Amsterdam): Ein kämpferischer Corbyn

"Premierminister Boris Johnson glaubt, die richtige politische Botschaft zu haben. Mit seinem Brexit-Kompromiss kann er einen garantierten Austritt aus der EU versprechen, was der Brexit-Partei den Wind aus den Segeln nehmen wird. Und indem für Polizei und das nationale Gesundheitswesen Milliarden und Abermilliarden in Aussicht gestellt werden, sind die von der Labour Party so verabscheuten Sparmaßnahmen der letzten Jahre kein Thema mehr. Es läuft auf einen Wettstreit hinaus zwischen dem energischen Johnson und dem normalerweise trübseligen (Labour-Chef) Corbyn, der aber stets kämpferisch ist, wenn er an Türen klopfen kann, um Stimmen zu gewinnen."

"Rzeczpospolita" (Warschau): Eine Lektion für Europa

"Die britische Erfahrung sollte eine Lektion für Europa sein. Unabhängig vom Ausgang der Wahl oder dem Ausgang eines möglichen Referendums ist jetzt schon klar: Die Hälfte der Bewohner des Königreichs wollen nicht, dass anonyme Eurokraten in undurchsichtigen Prozeduren über Schlüsselfragen ihres Staates entscheiden.

Wenn die Briten sich bei den Wahlen im Dezember für eine proeuropäische Regierung entscheiden, dann bedeutet dies keine Rückkehr zur Situation von 2016. Sondern eher eine Einladung, das Verhältnis zwischen Brüssel und Großbritannien – und im weiteren Sinne mit allen EU-Mitgliedern – auf eine neue Basis zu stellen. Die nationalen Parlamente sollten dann eine wesentlich gewichtigere Stimme bei der Frage der zukünftigen Integration bekommen."

"Neue Zürcher Zeitung": Der Wähler hat endlich das Sagen

"Für die Gegner wie für die Anhänger des EU-Austritts Großbritanniens, ja für das Königreich und ganz Europa ist das ein großer Moment. Mit der Zustimmung zu Neuwahlen, zu der sich das Parlament in Westminster am Dienstagabend nach letzten verzweifelten Winkelzügen der Parteien durchgerungen hat, ist ein Weg aus der Brexit-Sackgasse geebnet. Mehr als drei Jahre lang hatten zwei forsche, aber ziemlich machtlose konservative Premierminister, ein überforderter sozialistischer Oppositionsführer sowie ein galanter, aber zunehmend frustrierter Chefdiplomat in Brüssel um einen geordneten Austritt des Landes gerungen. Sie haben sich dabei andauernd gegenseitig blockiert. Nun ist ein Ende des Brexit-Dramas in Sicht. (...)

Der Gewinner der Wahl ist kaum vorherzusagen. Wie auch immer die Wähler sich entscheiden werden. Es ist gut, dass sie endlich das Sagen haben." (APA, 30.10.2019)