Die Geschichte, erzählt von Gig-Economy-Plattformen wie Mjam, Uber oder Mechanical Turk, geht so: Gigworker können ihre Arbeitszeit flexibel einteilen und sind ihr eigener Chef. Und Firmen, die auf sie zurückgreifen, können mit diesen Arbeitskräften flexibel auf den digitalen Wandel reagieren. Die Plattformen vermitteln dabei nur die Arbeit.

Die Geschichte aus Sicht der Gigworker, Gewerkschaften und Experten geht meist so: Wer sich von einem Auftrag zum nächsten hangelt, ist selten so flexibel und unabhängig. Denn wer Aufträge ablehnt, wird schlechter bewertet, bekommt weniger Aufträge und letztlich weniger Geld. Zusätzlich sind die Gigworker nicht von den Auftraggebern versichert, müssen ihre Räder oder Laptops selbst bereitstellen und werden meist schlecht bezahlt. Der Schluss daraus: Die Plattformen seien eigentlich Arbeitgeber und die Gigworker oft Scheinselbstständige. Weil es oft schwierig ist, den Arbeitnehmerstatus durchzusetzen, kommen Gigworker nicht in den Genuss der ihnen eigentlich zustehenden Rechte.

Deshalb gibt es viele Ideen, wie man ihre Situation verbessern kann. Zuletzt hat der britische Soziologe und Politikwissenschafter Colin Crouch einen Vorschlag in die Debatte gebracht. Anfang Oktober ist sein Buch Gig Economy: Prekäre Arbeit im Zeitalter von Uber, Minijobs & Co (Suhrkamp) auf Deutsch erschienen. Darin beschäftigt er sich aber allgemein mit der steigenden Prekarisierung unterschiedlichster Arbeitsverhältnisse. Die Gig-Economy sei der extremste Ausdruck davon.

Prekäre Arbeit nimmt zu

Crouch geht davon aus, dass künftig immer weniger Menschen in sicheren Anstellungsverhältnissen arbeiten und der Anteil an prekären Positionen größer wird. Vor allem ältere Männer seien unbefristet angestellt, junge und weibliche Arbeitnehmer befänden sich in unsicheren Jobs, schreibt Crouch. Im schlimmsten Fall wirkten sich die schlechten Arbeitsbedingungen auch auf die Gesellschaft aus, die dann die Gigworker in der Mindestsicherung mitträgt.

An dieser Spaltung setzt Crouchs Idee an: Weil sich immer weniger Unternehmen in der Verantwortung sehen, Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen, bräuchte es eine Reform dieses Systems, sodass jeder und jede abgesichert ist, wenn er oder sie arbeitslos ist, Angehörige pflegen muss und in der Pension abgesichert ist. Dafür schlägt Crouch vor, die Sozialversicherung durch eine Steuer auf die Nutzung menschlicher Arbeitskraft zu ersetzen oder zu ergänzen.

Gigworker arbeiten unter prekären Bedingungen. Colin Crouch hat eine Lösung: Sozialversicherung für alle.
Foto: Mjam

Konkret sähe das so aus: Alle Firmen und Organisationen, die über eine bestimmte Stundenanzahl menschliche Dienstleistungen nutzen, müssten Sozialversicherungsbeiträge zahlen – egal ob es einen Arbeitsvertrag gibt und egal wie lange ein Vertrag abgeschlossen wird. Damit wären auch Plattformanbieter eingeschlossen. Nachlässe gibt es etwa, wenn die Arbeitgeber Arbeitsverträge abschließen, das Mindestgehalt anerkennen oder Mitarbeiter für Aus- und Weiterbildungen freistellen. Trotzdem sieht Crouch einen lockeren Kündigungsschutz vor, um die Flexibilität der Unternehmen zu erhalten. Ebenfalls zahlen alle Einwohner in die Versicherung ein – egal ob angestellt, selbstständig oder etwa in unbezahlter Heimarbeit – und haben Anspruch auf staatliche Zuwendungen.

Vielmehr Erwerbsausfallsversicherung

Martin Risak ist Arbeitsrechtler an der Universität Wien und beschäftigt sich dort auch mit der Gig-Economy, Crouch geht in seinem Buch auch auf Risaks Forschungen ein. Für Risak ist Crouchs Modell allerdings "keine Sozialversicherung nach unserer Vorstellung, weil etwa der Krankheitsfall nicht abgedeckt ist". Vielmehr sei es eine Erwerbsausfallsversicherung und ein Steuersystem, um die Plattformen zur Verantwortung zu zwingen. Um zu verhindern, dass die Plattformanbieter dann ihren Sitz dorthin verlagern, wo sie nicht zur Kasse gebeten werden, schlägt Crouch eine europäische Richtlinie vor. Zusätzlich sollten die Gewerkschaften gestärkt werden und für die Interessen der Gigworker eintreten.

Ist so ein System, das Crouch für Großbritannien skizziert, auch für Österreich sinnvoll? Martin Risak ist nicht davon überzeugt. Er zweifelt daran, dass eine europäische Lösung aufgrund des Aufwands überhaupt durchsetzbar wäre. Daher würde Crouchs System nur bei ortsgebundenen Dienstleistungen wie den Essenskurieren funktionieren und nicht bei grenzüberschreitenden Online-Aufträgen. Die Radkuriere haben in Österreich immerhin ab 1.1.2020 einen Kollektivvertrag – weltweit erstmalig. Doch viele von ihnen sind gar nicht betroffen. Sie arbeiten als freie Dienstnehmer und daher gelten für sie die Verienbarungen nicht.

Arbeitsrechtler Risak sieht in Österreich primär den Handlungsbedarf beim fehlenden Mindestlohn und der Scheinselbstständigkeit der Gigworker und sekundär die soziale Absicherung. Das österreichische System ist aus seiner Sicht ohnehin nicht so weit von Crouchs Idee entfernt. "Wir haben eine umfassende Versicherungspflicht und viele Substitutionseinkommen wie Kinderbetreuungs- und Weiterbildungsgeld – bei den Selbstständigen kann man allerdings noch nachbessern." Relevant ist hier die Gesetzesauslegung: Risak geht davon aus, dass die Plattformen rechtlich gesehen meistens Arbeitgeber oder Vertragspartner von freien Dienstnehmern sind. Und bei Letzteren zahlen in Österreich die Auftraggeber auch Sozialversicherungsbeiträge, die freien Dienstnehmer werden von der Arbeiterkammer vertreten.

Gesetzliche Vermutung: Arbeitnehmer

"Wenn man über eine Plattform arbeitet, gibt es also eine gesetzliche Vermutung, dass man Arbeitnehmer der Plattform ist – und die ist dann in der Bringschuld, das Gegenteil zu beweisen", sagt Risak. Das sei eine einfache Art, wie man den Status des Arbeitnehmers und damit Mindeststandards wie Mindestlohn und Arbeitnehmerschutz durchsetzen könne. "So kann man nach österreichischem Arbeitsrecht klagen, obwohl die Plattform im Ausland sitzt."

Zusätzlich plädiert Risak dafür, sich anzusehen, welche bestehenden Regelungen man auf die Gig-Economy umlegen könnte. So gibt es hierzulande in der Baubranche für jene, die oft ihren Arbeitgeber wechseln, eine Urlaubskasse, in die die Arbeitgeber einen Zuschlag zum Lohn einzahlen und aus der das Entgelt während des Urlaubs bezahlt wird. "Das sind vernünftige Solidarsysteme, die auch für die Plattformökonomie sinnvoll wären", sagt Risak. (Selina Thaler, 11.11.2019)