Als Mädchen wird dir von Anfang an erklärt, dass du aufpassen musst, wenn du alleine mit einem Mann im Lift fährst, wenn du abends auf dem Heimweg bist, und es kommt dir jemand entgegen, sollst du die Straßenseite wechseln, du darfst mit niemandem im Auto mitfahren, weil du dich selbst schützen musst ...

Marie Luise Lehner ist eine 24-jahrige Wiener Autorin. Ihr neuer und schon zweiter Roman Im Blick erschien im Vorjahr und diskutiert von der Gesellschaft heruntergespielte Themen wie den subtilen Alltagssexismus, Schauen und Angeschautwerden, Aufwachsen als Frau, Gruppenzwang und körperliche Grenzüberschreitung.

Sie erzählt von persönlichen Erfahrungen, die die Ich-Erzählerin gemeinsam mit ihrer besten Freundin Anja zwischen ihrem zehnten und 21. Lebensjahr sammelt.

Diese Vorkommnisse aus ihrem Leben und Freundeskreis bilden gegen Ende – wie ein Puzzle – ein großes einheitliches Bild. Nebenbei führt die Protagonistin eine nicht eindeutige Beziehung mit einem "Du".

Lehner verzichtet auf Kategorisierungen und ein Mann-Frau-Schema, obwohl das auch im 21. Jahrhundert unmöglich scheint, zumal sie auf Probleme junger Frauen aufmerksam machen möchte. Die Autorin macht klar, dass Nein zu sagen oft nicht respektiert wird, Kinder in Rollenbilder gepresst werden (wenn nicht in der Familie, dann spätestens in der Schule), dass für eine junge Frau eine "freizügige" Lebensweise als gefährlich gilt.

Missbrauch anzeigen

Das Buch weckt beim Lesen intensive Emotionen und schafft Verständnis, ohne dabei Detailerzählungen zu benötigen. Zentral ist auch die fehlerhafte Verwendung des Wortes "Opfer" im Kontext von sexuellen Übergriffen in der deutschen Sprache.

In ihrem Buch schreibt Lehner: "Ein Opfer, das klingt so, als ob man schutzlos gewesen wäre und kein Subjekt mehr. Wir wollen unsere Situationen als die Menschen erleben, die wir sind." Sie selbst weiß, dass es okay ist, Wut gegen die Gesellschaft zu empfinden, und wie wichtig es ist, für Gerechtigkeit in unserer Welt zu kämpfen.

So erzählt sie zum Beispiel davon, wie unrealistisch und zugleich emotional fordernd es ist, sexuellen Missbrauch tatsächlich anzuzeigen. Wie oft kommen Täter nicht vor Gericht, weil Betroffene Angst haben müssen, selbst verurteilt zu werden? Am Ende heißt es, man hätte den Vorfall früher anzeigen müssen, um ihn glaubwürdig zu machen.

Dass man vielleicht psychisch noch nicht dazu in der Lage war, von dem schrecklichen Ereignis zu erzählen, scheint niemanden zu interessieren. Deswegen versuchen viele Betroffene, sich ihre Erinnerungen schönzureden, sie zu vergessen. (Alina Daxinger, 2.11.2019)