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Ein zerstörtes Dorf im Donbass im Jahr 2017, die Fotoserie von Valery Melnikow gewann den World Press Photo Award.

Foto: Reuters / Handout

Eines Tages robbt Sergej Sergejitsch doch raus ins Feld, wo seit längerem ein toter Soldat liegt. Er will ihn mit Schnee bedecken, damit er ihn nicht mehr anblicken muss. Wahrscheinlich versucht er so zu verdecken, dass eigentlich Krieg herrscht, auch wenn er diesen meistens nur durch das Krachen der Artillerie in der Ferne wahrnimmt.

Da der Schnee aber bereits gefroren ist, bricht er mit einem Spaten eine Schneekruste heraus und bedeckt mit ihr den armen Kerl, den es in diesem umkämpften Niemandsland in einem gottverlassenen Dorf erwischt hat.

So wie der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow diesen Akt in seinem neuen Roman Graue Bienen (Diogenes-Verlag) beschreibt, bedarf es harter Arbeit, den Krieg aus seinem Sichtfeld zu verbannen.

Sergej Sergejitsch, der Mann mit dem tönenden slawischen Allerweltsnamen, ist einer von zwei Männern, die dieses Dörfchen in der Ostukraine noch irgendwie am Leben halten. Alle anderen sind unter dem Beschuss der ukrainischen Armee oder der Separatisten umgekommen oder geflohen.

Der Frührentner ist Imker. Seine Bienen sind es, die ihn am Leben erhalten. Der zweite Dorfbewohner heißt Paschka, seit Kindheitstagen ist er der Feind von Sergej Sergejitsch. Aber in dieser Unwirklichkeit, in der das Leben nur noch ein zähes Vorsichhinleben ist, arrangieren sich die beiden miteinander.

Kurkow spürt in seinen Romanen seit den Neunzigern den Brüchen und Verwerfungen der ukrainischen Gesellschaft literarisch nach, meistens unter dem Zerrglas der feinen Ironie und des süffisanten Humors.

Beides ist auch in dem neuen Roman Kurkows Mittel, um die Absurdität des Lebens in der Grauzone auszuloten. In dem Dorf Malaja Starogradowka zwischen Slowjansk und Horliwka – nahe der Stadt Donezk.

Imker und Antiheld

Ab und zu bekommt dieser Antiheld Besuch von einem ukrainischen Soldaten, der ihm Speck bringt. Ab und zu betrinkt er sich mit Paschka. Ab und zu erinnert er sich an die Zeit, als er noch verheiratet war. Es passiert nicht viel in den beiden Straßen, der Lenin-Straße und der nach dem ukrainischen Nationaldichter Schewtschenko benannten Straße – was auch für die vermeintlichen ideologischen Leitlinien steht, an der sich die ostukrainische Gesellschaft aufreibt.

Ansonsten ist das Leben auf das Nötigste zurückgeworfen: schlafen, essen, die Gedanken, die keinen Halt im Alltag mehr finden, auf die Reise schicken. Was macht die Psyche, wenn sie von einem Ausnahmezustand eingehegt wird – dies untersucht Kurkow in diesem Buch.

Für Politik interessiert sich der Protagonist dieser langsam erzählten und mit raffinierten Details gespickten Geschichte nicht wirklich, nur für seine Bienen, deren Ordnungsstaat im Angesicht des süßen Honigs die Sinnlosigkeit des Krieges konterkariert. Allerdings steht Sergej Sergejitsch für die Idee einer integralen Ukraine, wohingegen sein Nachbar mit den prorussischen Milizen sympathisiert.

Kein Überzeugungstäter

Sergej Sergejitsch ist kein Überzeugungstäter, er will sein Leben leben. In Zeiten des Krieges, in denen Positionen klar festgesetzt werden, fällt so einer aus der Gesellschaft. Das wird im Laufe des Buches immer deutlicher. Denn der Imker macht sich tatsächlich auf die Reise, weil er es seinen Bienen ermöglichen will, abseits des Kriegsdonnerns unbehelligt ausschwärmen zu können.

Und überall, wo er hinkommt, im Kernland der Ukraine, im Hinterland der Krim bei den Tataren, bleibt er der Fremde. Absurderweise wird er erst auf dieser Reise aus der Beschaulichkeit seines Dorfes, das tatsächlich zwischen den Fronten lebt, in die Kriegsrealität eines Landes hineingezogen, das mit sich ringt und um sich kämpft.

Kurkow, der eigentlich nie über den Krieg in seinem Land schreiben wollte, hat nach Internat von Serhij Zhadan das eindringlichste Buch über diesen bei uns vergessenen Krieg geschrieben. Ein Buch, das auf verschiedenen Ebenen funktioniert und das helfen wird, einen Krieg zu verstehen, der eigentlich nicht zu begreifen ist.