Seit gut zehn Jahren habe ich meine Familie nicht gesehen. Meinen Vater, meine Mutter, meine drei Schwestern, meine zwei Brüder. Auch viele Freunde gehen mir ab, und ich werde wahrscheinlich nie wieder in meine Heimatstadt kommen, nach Teheran. Manchmal bin ich sehr verzweifelt, immer noch. Dennoch würde ich sofort wieder so entscheiden wie damals. Ich würde mein Land, den Iran, hinter mir lassen. Schließlich bin ich ein Mensch und keine Marionette. Ich bin ein Mensch, und ich will frei sein.

Vahid Sarlak mit olympischer Pseudofackel vor einer Tokio-Imagewand. Er geht davon aus, dass er als Coach zu den Spielen nach Japan reisen und dort seinen Freund Saeid Mollaei treffen wird.
Foto: Privat

Ich war einer der besten Judoka im Iran, einer der besten weltweit in der Klasse bis 60 Kilogramm. Da hab ich auch gegen euren Ludwig Paischer gekämpft, ich erinnere mich gut an ihn, er war 2005 WM-Zweiter und 2008 Olympiazweiter. Ich war zweimal knapp an einer WM-Medaille dran, 2009 in Rotterdam als Fünfter, vor allem aber 2005 bei der WM in Kairo, wo Paischer Silber holte. Da war ich sehr gut in Form, doch dann musste ich absichtlich gegen einen Aserbaidschaner verlieren, um einem Kampf gegen einen Israeli aus dem Weg zu gehen.

Ich begreife es nicht

Ich habe geweint, ich bin auf der Matte gestanden und habe geweint. Viele haben gedacht, dass ich mich verletzt hätte. Aber das war es nicht. Ein iranischer Sportler darf nicht gegen einen Israeli antreten. Um ein solches Duell zu vermeiden, muss der Iraner den Kampf vorher verlieren. Oder so tun, als hätte er sich verletzt. Das ist so, seit es die Islamische Republik Iran gibt, seit 1979, seit der Islamischen Revolution. Ich bin 1981 geboren, das Gesetz ist also älter als ich. Der Iran verweigert Israel die Anerkennung und will um alles in der Welt verhindern, dass die israelische Flagge über der iranischen Fahne hängt. Das darf auf gar keinen Fall passieren. Deshalb darf ein Iraner, wenn ein Israeli im Finale steht, nicht einmal mehr um den dritten Platz kämpfen. Das gilt im Judo, im Ringen, im Schach, in allen Sportarten. Ich begreife dieses Gesetz nicht, ich habe es nie begriffen.

"Ich habe geweint, ich bin auf der Matte gestanden und habe geweint."

Wir sind Sportler. Wir wollen kämpfen, wir wollen gewinnen. Es ist uns egal, ob auf der anderen Seite ein Franzose, ein Belgier oder ein Israeli steht. Es hätte 2005 in Kairo ja auch sein können, dass ich den Aserbaidschaner und dann den Israeli besiege. Ich war mir sicher und bin mir immer noch sicher, dass ich sie geschlagen hätte. Der Aserbaidschaner hat damals Bronze geholt. Ich hab mir immer gedacht, das ist eigentlich meine WM-Medaille. Ich bin um diese Medaille gebracht worden. Aber nicht vom Aserbaidschaner, auch nicht vom Israeli. Die können nichts dafür. Schuld war die iranische Politik.

Ähnliches ist mir vorher auch schon einmal passiert, 1998 bei den World Youth Games in Moskau. Auch da wäre ich gegen einen Israeli drangekommen, auch da durfte ich nicht antreten. Ich war 17 Jahre alt, ich hab die Welt nicht verstanden. Vahid, warum? Diese Frage ist mir tagelang durch den Kopf gegangen. Aber wirklich aufbegehren konnte ich damals noch nicht. Ich hab weitergekämpft, Judo war mein Leben.

Turnier in Tokio 2009: Vahid Sarlak besiegt Ludwig Paischer.
Foto: APA/AP/Shuji Kajiyama

Sporterfolge sind dem Iran eher unangenehm. Wenn Sportler zu erfolgreich werden, werden sie populär, sie werden Helden und bekommen Einfluss, das wird nicht gerne gesehen. Viele Sportler im Iran stehen nach ihrer Karriere nicht gut da, die wenigsten haben gut verdient. Mein Vater war Maler und Anstreicher, meine Mutter Hausfrau. Meine Familie ist nicht reich. Ich hätte Taxifahrer werden können, wenn ich geblieben wäre.

Ich bin weggegangen. Ich hab zuerst in den Niederlanden, dann in der deutschen Liga für Mönchengladbach gekämpft. Beim European Cup 2010 in Hamburg bin ich gegen einen Israeli ausgelost worden. Ich wollte unbedingt kämpfen und bin angetreten. Ehrlich gesagt, ich hab mir gedacht, dass das niemand im Iran mitbekommen wird.

Ich wurde bedroht

Das war ein Irrtum. Schon als ich nach dem Turnier mein Handy aufgedreht hab, waren da viele versäumte Anrufe. Ich wurde bedroht. An dem Punkt ist es mir zu viel geworden. Ich hab mir einen Anwalt genommen, einige Monate später hab ich in Deutschland um Asyl angesucht. Seit 2017 hab ich die deutsche Staatsbürgerschaft. Ich hab auch noch meinen iranischen Pass, er ist nicht mehr gültig. Ich behalte ihn für mein Herz und zur Erinnerung.

"Man hat riesigen Druck auf ihn ausgeübt, da waren Leute aus dem Konsulat in der Halle."

Als jetzt die Geschichte mit Saeid Mollaei passiert ist, hat mich das natürlich an meine Geschichte erinnert. In zehn Jahren hat sich gar nichts verändert. Saeid ist einer der besten Kämpfer in der Klasse bis 81 Kilogramm. 2018 in Baku war er Weltmeister, es war der erste iranische Judo-WM-Titel seit 15 Jahren. Der andere herausragende Kämpfer in seiner Klasse ist Sagi Muki aus Israel.

Bei der WM heuer in Tokio hat Saeid auf dem Weg ins Semifinale den russischen Olympiasieger geschlagen. Doch im Finale wäre er auf Sagi Muki gestoßen, das durfte aus iranischer Sicht nicht sein. Saeid musste sein Semifinale und nachher auch den Kampf um Bronze verlieren. Man hat riesigen Druck auf ihn und die Trainer ausgeübt, da waren Leute aus dem Konsulat in der Halle. Auch Saeids Familie im Iran ist bedroht worden. Er hat die ganze Zeit telefoniert, hat sich vor seinen Kämpfen überhaupt nicht aufgewärmt, war unkonzentriert.

Vor seinem WM-Semifinale hatte Saeid Tränen in den Augen. Sein Trainer ist ihm nicht mehr zur Seite gestanden. Ich hab ihm geholfen, sonst wäre er komplett alleine gewesen.

Was kann Saeid dafür?

Ich behaupte, dass wir Israel ein Geschenk gemacht haben. Ich behaupte, Saeid wäre in der Lage gewesen, seinen Titel zu verteidigen. Der Iran hat dazu beigetragen, dass die israelische Fahne ganz nach oben gezogen wurde. Politik sollte im Sport nichts verloren haben. Was kann Saeid dafür, was hat er angestellt? Er wollte nicht mehr zurück, er hat mich gefragt, ob ich ihm helfen kann. Wir kennen uns ja seit Jahren. Ich hab ihm gesagt: Das ist eine große Sache, die du da vorhast. Saeid, du musst jetzt mutig sein.

Verlor auf Anweisung: Saeid Mollaei.
Foto: imago images / Xinhua

Er soll sich jetzt zurückzuhalten, das hab ich Saeid geraten. Er soll keine großen Interviews geben, das wäre für seine Familie nicht gut. Seine Geschichte ist im Iran sowieso groß in den Medien. Noch dazu, wo der Iran jetzt sogar vom Weltverband gesperrt wurde. Ich hoffe nicht, dass es bei dieser Sperre bleibt. Ich hoffe, dass sich die Lage im Iran ändern kann und dass diese absurden Gesetze abgeschafft werden.

Immerhin durften vor kurzem zum ersten Mal Frauen offiziell ins Fußballstadion, um ein Länderspiel zu sehen. Es tut sich etwas, es muss sich noch mehr tun. Internationale Organisationen, auch Sportverbände, müssen den Druck auf den Iran erhöhen, allen voran das IOC. Es geht nicht nur um Judo, es geht auch um Ringen, um Schach, um viele Sportarten. Iraner sind gute Menschen, der Iran ist ein gutes Land. Aber die Politik macht es kaputt.

"Der Verein ist meine zweite Familie geworden, dafür will ich mich revanchieren."

Ich bin seit 2015 verheiratet, vor einem Monat hat meine Frau ein Mädchen zur Welt gebracht. Wir führen ein glückliches Leben. Mir haben in Deutschland viele Menschen geholfen, vor allem Stefan Küppers vom Judoclub Mönchengladbach und Jörn Becker, der Chef des Gesundheitszentrums, in dem ich als Physiotherapeut arbeite. Außerdem bin ich jetzt selbst Trainer des JC Mönchengladbach, und ich betreue das Nationalteam von Tadschikistan. Der Verein ist meine zweite Familie geworden, dafür will ich mich revanchieren. Mein Ziel ist es, in Mönchengladbach einen Weltmeister herauszubringen.

Und ich kümmere mich um Saeid. Ich tu für ihn, was ich kann. Wir haben fast täglich Kontakt. Manchmal weint er am Telefon. Ich denke, dass auch er in Deutschland bleiben wird. Der Weltverband und das IOC stellen ihm in Aussicht, dass er bei den Olympischen Spielen 2020 in Tokio kämpft, wahrscheinlich als Teil eines Flüchtlingsteams. Saeid glaubt fest daran, dass er Olympiasieger werden kann. Das wäre eine große Geschichte. (Zugehört und aufgezeichnet hat: Fritz Neumann, 2.11.2019)