Im Gastkommentar beschwört der deutsche Außenminister Heiko Maas den Mut von 1989. Er fordert, die Europäer müssten endlich europäisch handeln.

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Ostberliner bezwingen die Mauer beim Brandenburger Tor – undenkbar bis zu jener Jahrhundertnacht 1989 in Berlin.
Foto: Reuters

Jeder von uns in Europa, der oder die den 9. November 1989 erlebt hat, kann diese Frage beantworten. Denn als sich Ost- und Westdeutsche vor 30 Jahren weinend vor Glück in den Armen lagen, endete nicht nur die deutsche Teilung. Mit der Mauer fiel auch der Eiserne Vorhang, der unseren Kontinent 40 Jahre lang zerrissen hatte.

Am 9. November feiern wir Deutschen deshalb nicht nur den Fall der Mauer. Wir feiern den Mut, mit dem die Menschen in ganz Mittel- und Osteuropa Freiheit und Demokratie gewonnen haben. Wir feiern ein Europa, das heute – von wenigen Ausnahmen abgesehen – zu seinem Glück vereint ist.

Ein Geschenk Europas

Wir Deutsche wissen, wem wir dieses Glück verdanken: den hunderttausenden Ostdeutschen, die für die Freiheit auf die Straße gegangen sind. Aber auch den Danziger Werftarbeitern, den singenden Revolutionären in den baltischen Ländern, den Ungarn, die als Erste den Eisernen Vorhang durchtrennten, den Vordenkern der Charta 77 in Prag, den Kerzendemonstranten in Bratislava, den Aufständischen von Timisoara – all den Frauen und Männern, deren Freiheitswille Mauern und Stacheldraht hinwegfegte. Und wir verdanken es unseren Freunden und Bündnispartnern im Westen, aber auch Michail Gorbatschows Politik der Glasnost und Perestroika, die den Weg ebneten zur Wiedervereinigung.

Die deutsche Einheit, sie war ein Geschenk Europas an Deutschland – und das am Ende eines Jahrhunderts, in dem Deutsche unvorstellbares Leid über diesen Kontinent gebracht hatten.

Neue Gräben überwinden ...

Für uns entsteht daraus eine Verpflichtung: die Einigung Europas zu vollenden. Ein Europa zu bauen, das den Werten und Träumen derer gerecht wird, die 1989 für Freiheit und Demokratie auf die Straße gingen. Darauf wollen wir hinarbeiten, auch wenn wir nächstes Jahr, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, die EU-Präsidentschaft übernehmen.

Die Euro-Rettung, der endlose Streit um die Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen – all das hat neue Gräben aufgerissen in Europa. Mit dem Brexit erleben wir, wie erstmals ein Land die EU verlässt. Und in vielen Ländern Europas finden diejenigen Zulauf, die uns weismachen wollen, dass weniger Europa besser für uns ist.

Dabei ist klar: Wir werden in dieser Welt nur bestehen, wenn wir Europäer zusammenhalten. Denn mit den vier großen weltweiten Herausforderungen – der Globalisierung, dem Klimawandel, der Digitalisierung und der Migration – wird keiner von uns allein fertig. Appelle aus Wien, aus Berlin oder Paris allein verhallen in Moskau, Peking und leider zunehmend auch in Washington. Nur Europas Stimme hat entscheidendes Gewicht. Deshalb müssen nationale Alleingänge endlich tabu sein in Europa.

Gemeinsam müssen wir eine europäische Politik gegenüber Ländern wie Russland und China formulieren und umsetzen. Dafür braucht es eine wirksamere europäische Diplomatie, vor allem aber mehr Flexibilität von uns allen. Mit 27 nationalen Ansätzen werden wir scheitern.

Gemeinsam müssen wir mehr dafür tun, die Konflikte in unserer Nachbarschaft zu entschärfen – im Donbass, in Syrien und in Libyen. Dazu müssen wir Europas Instrumente zur friedlichen Konfliktbeilegung stärken. Und wir brauchen eine wirkliche europäische Verteidigungsunion, komplementär zur Nato, die, wo nötig, aber auch eigenständig handeln kann.

Gemeinsam müssen wir für den Erhalt der internationalen Ordnung kämpfen und zum Herz einer Allianz für den Multilateralismus werden. Denn vom Erhalt dieser Ordnung hängt unser Friede auch in Europa ab.

Gemeinsam müssen wir eine Führungsrolle beim Schutz des Klimas übernehmen. Es braucht mutige politische Entscheidungen und echte gesellschaftliche Anstrengungen, damit unser Kontinent bis Mitte des Jahrhunderts klimaneutral wird. Gelingt uns das nicht, verspielen wir die Zukunft unserer Kinder.

Gemeinsam müssen wir die europäische Wirtschaft stärken, um nicht zerrieben zu werden im Handelsstreit und im technologischen Wettstreit zwischen China und den USA. Der nächste EU-Haushalt muss deshalb ein Haushalt der Zukunft werden, der gezielt in Forschung, Hochtechnologie und Digitalisierung investiert. Nur so sichern wir Europas Wohlstand.

... und europäisch handeln

Gemeinsam müssen wir dafür sorgen, dass unsere Union auch im Innern zusammenhält. Stark ist Europa, wenn es seinen Bürgerinnen und Bürgern soziale Sicherheit bietet, wenn nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch unsere sozialen Standards zusammenwachsen. Und stark ist Europa, wenn wir Werte wie Rechtsstaatlichkeit achten und durchsetzen.

Der Herbst 1989 hat gezeigt, wozu wir Europäerinnen und Europäer imstande sind, wenn wir über nationale Grenzen hinweg denken und handeln; welche Kraft in uns steckt, wenn wir für Freiheit und Demokratie, für Recht und Gerechtigkeit eintreten: die Kraft, Mauern und Grenzen zu überwinden. Die Kraft, unsere Werte und Interessen durchzusetzen in einer zunehmend autoritären Welt.

Diese Welt braucht Europas Mut zur Freiheit, den Mut von 1989. Trauen wir uns endlich, Europäer zu sein, europäisch zu handeln – ohne Wenn und Aber! (Heiko Maas, 4.11.2019)