Im Gastkommentar erinnert sich der heutige Neos-Abgeordnete und damalige ORF-Korrespondent an den Tag, als der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl seine historische Polen-Reise unterbrechen musste, weil in Berlin die Mauer fiel.

Das Jahr 1989 – eine einzige Abfolge historischer Ereignisse mitten in Europa. Im Juni hatten Alois Mock und Gyula Horn mit großen Eisenscheren medienwirksam den Eisernen Vorhang durchtrennt, im September konnte Außenminister Hans-Dietrich Genscher 4000 geflohenen DDR-Bürgern, seinen "Landsleuten", wie er sie nannte, den Weg aus der deutschen Botschaft in Prag ermöglichen. Michail Gorbatschow feierte am 7. Oktober noch 40 Jahre DDR, wobei er besser als die Ostberliner Kommunisten begriff, dass dies der letzte Geburtstag des Staates von sowjetischen Gnaden war. "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben", hat der letzte Staatspräsident der Sowjetunion in einem Vieraugengespräch mit DDR-Staatschef Erich Honecker gesagt, so schreibt er es in seinen Memoiren. In Leipzig wurden die Rufe "Wir sind ein Volk" lauter, wie ich als ORF-Korrespondent jeden Montag inmitten immer größerer Demonstrationen erleben durfte. Und am 9. November trat Helmut Kohl seine lang geplante Reise nach Polen an.

Sieben Jahre war Kohl bereits deutscher Bundeskanzler, als er diese bis dahin wohl wichtigste Auslandsreise seiner Amtszeit antrat. Der Besuch in Warschau hatte ganz besondere Brisanz, denn das Verhältnis der Bundesrepublik zu Polen war auch nach Willy Brandts legendärem Kniefall im Warschauer Ghetto 1970 und nach der Unterzeichnung der Ostverträge immer wieder sehr angespannt. Dafür sorgten vor allem Vertriebenenverbände, die ein "Deutschland in den Grenzen von 1937" nicht aufgeben wollten, also die Oder-Neiße-Grenze und damit die Zugehörigkeit von Pommern, Ostpreußen und Schlesien zu Polen nicht akzeptierten.

Leidige Grenzfrage

Der Besuch war über viele Monate vorbereitet worden, und während dieser Zeit veränderte sich die politische Lage in Warschau grundsätzlich. Am 24. August hatte der Sejm den Christdemokraten Tadeusz Mazowiecki zum Ministerpräsidenten gewählt, er war der erste nichtkommunistische Regierungschef seit dem Krieg. Mit ihm besprach Kohl auch die leidige Grenzfrage, er stelle die Grenze zu Polen natürlich nicht infrage, so erläuterte Kohl später seinen Standpunkt auch vor Journalisten, aber solange es keinen gesamtdeutschen Souverän gäbe, könne keine Bundesregierung eine völkerrechtlich verbindliche Erklärung abgeben. Der Krieg war seit 44 Jahren zu Ende, einen Friedensvertrag gab es aber noch nicht.

Als Kohl nach seinem Galadiner mit Mazowiecki zu den Journalisten ins Hotel Marriott kam, gab es aber bereits ein viel wichtigeres Thema: Was würde die Erklärung des DDR-Politikers Günter Schabowski über "Privatreisen in den Westen" bedeuten? War die Mauer nun offen?

Ein historischer Versprecher: SED-Funktionär Günter Schabowski verkündet in einer Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989 neue Reisebestimmungen (Audio-Aufnahme des SWR). Daraufhin machen sich tausende Ostberliner auf zu den Grenzübergängen. Der Rest ist Geschichte.
Illustration: Michael Murschetz

Historische Stunde

An dieser Stelle gehen die Erinnerungen von Kohl und anderen Teilnehmern dieses Hintergrundgesprächs mit Journalisten auseinander. In seinen Erinnerungen Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung schreibt er: "Im Hotel sah ich die ersten Fernsehbilder aus Berlin. Sofort stand für mich fest, dass ich trotz der Wichtigkeit meines Polen-Besuchs zurück nach Deutschland musste. Der Platz des Bundeskanzlers konnte in dieser historischen Stunde nur in der deutschen Hauptstadt sein, dem Brennpunkt der Ereignisse."

Meine Erinnerungen sind etwas differenzierter. Es war klar, dass Kohl nicht einfach abreisen konnte, er berichtet auch, dass die polnische Führung Druck auf ihn machte, den Besuch fortzusetzen. Deshalb machte der deutsche Kollege Gisbert Kuhn den Vorschlag, Kohl könne den Besuch ja unterbrechen, nicht abbrechen, und nach einer kurzen Berlin-Reise die weiteren wichtigen Stationen wahrnehmen. Immerhin standen noch ein protokollarischer Termin mit dem kommunistischen Staatspräsidenten Wojciech Jaruzelski auf dem Programm, ein Besuch im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und ein Gottesdienst auf dem Gut der Familie Moltke in Krzyzowa (Kreisau).

Polen-Besuch unterbrochen

Ob es nun die Idee des Kollegen Kuhn war oder nicht – genau das passierte. Kohl unterbrach seinen Staatsbesuch, und alle Termine wurden um einen Tag verlegt. Aber der Kanzler stand vor dem nächsten Problem, das der Zweite Weltkrieg Europa hinterlassen hatte: Kohls Dienstflugzeug, die Maschine der deutschen Luftwaffe, durfte nicht nach Berlin fliegen. Für die geteilte Stadt galt noch immer der Viermächtestatus. Die vier Siegermächte durften nach Berlin fliegen, die Deutschen nicht. Kohl musste also in Hamburg in ein Flugzeug umsteigen, das ihm der US-Botschafter rasch zur Verfügung gestellt hatte.

Pfiffe für den Kanzler

Der Kanzler in Berlin: "Glückliche, aber auch schwierige Stunde".
footage berlin - rbb media

Kohl war nach seinem Auftritt in Berlin recht ungehalten. Bei einer großen Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus, dem Amtssitz des Regierenden Bürgermeisters von (West-)Berlin, gab es laute Pfiffe. Der "Pöbel" – wie Kohl sich in seine Memoiren ausdrückt – war besser organisiert als die CDU, die damals gerade nicht den Bürgermeister stellte. Kohl sprach von einer "glücklichen, aber auch schwierigen Stunde". Dann dachte er schon weiter: "Klug handeln heißt jetzt, die ganze Dimension der weltpolitischen, europäischen und der deutschen Entwicklung zu sehen." In diesen Tagen wuchs der Kanzler, den einige Parteifreunde nur wenige Wochen davor bei einem Parteitag in Bremen stürzen wollten, zum Staatsmann. Seine Verhandlungen der kommenden Monate machten die friedliche deutsche Einheit im Jahr darauf möglich.

Extreme europäischer Geschichte vereint

Für viele Reporter – und ich war nur einer davon – war der 10. November, als Kohl nach Berlin flog, eine persönliche Niederlage. Wir warteten am Warschauer Flughafen auf eine Maschine der Lufthansa, die uns auch nach Hamburg bringen sollte. Der Nebel verhinderte aber die Landung.

Mit den Besuchen in Krzyzowa und Auschwitz in den Tagen nach der Öffnung der Berliner Mauer tauchten wir dann noch tief in die finsterste Zeit der deutschen Geschichte ein. Wir gingen durch Stätten des industriellen Massenmordes und hatten gleichzeitig die Bilder von jubelnden Deutschen im Kopf, die nicht mehr durch eine Mauer getrennt waren. Alle Extreme europäischer Geschichte waren in diesem Augenblick unmittelbar vereint und werden es immer bleiben. (Helmut Brandstätter, 5.11.2019)