So richtig in sind Genossenschaften nicht, gesteht auch Expertin Theresia Theurl zu. Allerdings gibt es Neugründungen in Österreich, wo etwa Raiffeisen und Volksbanken genossenschaftlich organisiert sind. Heuer beispielsweise dazugekommen: Genossenschaften für den Weiterbetrieb eines Ortswirtshauses in Vorarlberg, zur interdisziplinären Aus- und Weiterbildung für Ärzte und Pfleger oder für die Zollabwicklung am Grenzübergang Suben in Oberösterreich.

"Genossenschaften müssen Gewinn machen, schütten aber wenig davon aus. Darum ist das Modell keines fürs Reichwerden", sagt Ökonomin Theurl.
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STANDARD: Sie kommen von einem Workshop des Österreichischen Genossenschaftsverbands, in dem es um die Zukunft von Genossenschaften ging. Sie empfehlen die für Start-ups. Was kann diese Rechtsform besser als andere?

Theurl: Oft haben junge Leute eine gute unternehmerische Idee, brauchen aber Gleichgesinnte, um sie zu realisieren. Und da empfiehlt sich die Genossenschaft, denn sie ist ein Modell zum Aufbau unternehmerischer Existenzen. Sie ist flexibel, weil man jederzeit neue Mitglieder aufnehmen kann, man kann sie umgründen, und das alles geht einfach und ohne großen Aufwand. Als Eigentümer kann man das Geschäft entwickeln, und der Erfolg bleibt in der Genossenschaft.

STANDARD: Die meisten gründen aber GmbHs. Im Österreichichen Genossenschaftsverband gibt es 150 Genossenschaften, neun sind heuer dazugekommen. Genossenschaften gelten als angestaubt.

Theurl: Stimmt, die Genossenschaft ist zu wenig bekannt und hat nicht unbedingt das zukunftsorientierte, moderne Image. Da braucht es schon Berater, die Gründer auf diese Rechtsform hinweisen. In Deutschland gibt es 8000 Genossenschaften, und die stellen ihr Licht oft unter den Scheffel.

STANDARD: Dazu kommt, dass man den Gewinn nicht beliebig entnehmen kann ...

Theurl: Ja, aber das ist auch Risikovorsorge, weil das ein Schutz für junge Gründer sein kann. Dazu trägt ja auch die im Genossenschaftsverband angesiedelte Revision bei, die für die Prüfung von Genossenschaften zuständig ist und Finger auf Wunden legen, warnen kann. Gerade bei jungen Leuten gibt es eine gewisse Ernüchterung in Bezug auf den Shareholder-Value-Kapitalismus. Sie wollen das Modell nicht, in dem alles Erwirtschaftete an Investoren geht. Bei Genossenschaften bleibt ein Teil im Unternehmen: Dieses Modell kommt bei Jungen gut an.

STANDARD: Das tut auch die sogenannte Gemeinwohl-Ökonomie. Wo sehen Sie den Unterschied?

Theurl: Mit dieser Frage könnten Sie mich fast aggressiv machen. Gemeinwohl-Ökonomie? Da kritisieren Leute, die meist wenig von Ökonomie verstehen, unser Wirtschaftssystem als schlecht und präsentieren vermeintlich neue Wege. Sie setzen alle bei der Verteilung an, wie man von irgendjemandem zu irgendwem anderen verteilen kann. Es interessiert sie überhaupt nicht, wie Wertschöpfung entsteht, wie ein wirtschaftliches Ergebnis zustande kommt. Und dann sagen sie oft: Unser neues System ist genossenschaftlich – dabei hat das gar nichts mit Genossenschaften zu tun. Das Genossenschaftssystem setzt bei der gemeinsamen Wertschöpfung an, und es ist klar, dass die Vorteile an die Mitglieder, die Genossenschafter gehen. Genossenschaften müssen Gewinne machen, es wird aber wenig davon ausgeschüttet. Darum ist das Modell kein Modell fürs Reichwerden. Wer reich werden will, gründet keine Genossenschaft.

In Deutschland gründen Unternehmer und Private Genossenschaften für schnelleren Breitbandausbau.
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STANDARD: In Deutschland gibt es viele Genossenschaftsgründungen im Infrastrukturbereich, etwa beim Breitbandausbau. Rechnet sich das?

Theurl: Ja. In Deutschland ist man beim Breitbandausbau im ländlichen Raum relativ langsam, weil er für die großen Anbieter recht teuer und unattraktiv ist. Viele betroffene Unternehmen oder Bürger wollen sich damit nicht abfinden, haben sich zusammengetan und Genossenschaften gegründet. Die schaffen den Ausbau schnell und sind auch wettbewerbsfähig. Bürger springen aber auch im Gemeindebereich mit Genossenschaften ein, etwa wenn Gemeinden ihre Schwimmbäder, Festhallen oder Vereinshäuser zusperren, weil sie sich das nicht mehr leisten können oder wollen. Wenn diese Infrastruktur auf dem Land verschwindet, wird es für die Bevölkerung sehr schnell sehr trist. Und darum übernimmt sie das.

STANDARD: Wie stemmen sie das finanziell?

Theurl: Es braucht jemanden, der das zu seinem Projekt erklärt, in die Hand nimmt und der Mitstreiter, also Genossenschafter, auftut. Wenn man das geschafft hat, hat man alle Möglichkeiten, Finanzierungen aufzustellen.

STANDARD:In Deutschland gibt es auf dem flachen Land auch Ärztegenossenschaften, bei uns gibt es die aus gesetzlichen Gründen nicht. Ein Rezept gegen den Ärztemangel?

Theurl: Es war zunächst schwierig, weil die Ärztekammer den Genossenschaften die Zulassung verwehrt hat, vor allem wegen des Haftungsrisikos. Gerade auf dem Land müssen Ärzte Tag und Nacht einsatzbereit sein, tragen also besonders viel Risiko. Inzwischen ist das Problem gelöst: Eine genossenschaftliche Versicherung deckt das Risiko ab, die Kammer gibt den Ärzten die Zulassung. Immer mehr Ärzte schließen sich in Genossenschaften zusammen.

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Sie könnten sich einen Reiseführer aus der Genossenschaft holen: Touristen in Berlin.
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STANDARD: In Berlin gibt es auch Reiseführer-Genossenschaften ...

Theurl: Ja, die Stadtführer waren in prekären Verhältnissen tätig und kamen eines Tages auf die Idee, sich zusammenzutun. Als Genossenschaft mit mehr als 200 Stadtführern bieten sie heute ein breites Spektrum an: Die einen kennen bestimmte Stadtviertel sehr gut, andere bestimmte Museen, wieder andere sind auf Frauen- oder Künstlerthemen spezialisiert. Heute wenden sich die Kunden an die Genossenschaft, der einzelne Reiseführer muss nicht mehr um Aufträge rennen, sondern die Genossenschaft weiß, wer der Beste für den jeweiligen Kunden ist. Die Auftragslage hat sich verbessert, die Kunden sind zufriedener, die Genossenschaft ist äußerst erfolgreich. Das gilt übrigens auch für Künstlergenossenschaft Berlin Musik: Da sind Musiker, Location-Besitzer, Event-Organisatoren, Agenturen Genossenschafter, insgesamt rund 600 Leute. Und alle profitieren.

STANDARD: Bei der Genossenschaft rund um den Hamburger Fußballklub St. Pauli waren Geldprobleme Gründungsanlass.

Theurl: Ja, Mitglieder des Fußballklubs haben heuer im Sommer dessen Stadion gekauft und betreiben das nun als Genossenschaft. Erworben haben sie das Stadion, weil der Klub in finanzielle Schieflage geraten war. Die Fans von St. Pauli sind außerordentlich treu, wollten dem Klub helfen – und hatten das Geld fürs Stadion relativ rasch beisammen. Die Fans sind jetzt Genossenschafter.

STANDARD: Deutsche Unternehmen gründen immer öfter Familiengenossenschaften. Wozu?

Theurl: Weil immer mehr Unternehmen Personalprobleme haben. Immer mehr erfahrene Frauen müssen aus dem Arbeitsleben ausscheiden, weil sie sich um ihre Kinder oder pflegebedürftige Verwandte kümmern. Sie haben dann das Problem der unterbrochenen Karriere, die Unternehmen müssen Ersatz finden. Und da haben sich etliche größere Unternehmen in rund einem Dutzend Familiengenossenschaften zusammengefunden. Sie organisieren für die Arbeitnehmer alles, was die brauchen, um weiterarbeiten zu können: Pflegedienstleistung, Beaufsichtigung für Kinder. Das funktioniert sehr gut: Die Frauen können beruhigt weiterarbeiten, die Unternehmen tragen die Kosten.

STANDARD: Die Entscheidungsfindung in Genossenschaften ist mühsam, jeder Genossenschafter hat eine Stimme. Bremst das nicht?

Theurl: Natürlich führt dieses Prinzip manchmal dazu, dass ewig diskutiert und nie entschieden wird – und irgendwann ist es zu spät. Aber das muss nicht sein, Genossenschaften haben ja auch ein Management. Genossenschaften gehen äußerst selten pleite.

STANDARD: Österreichs Volksbankensektor wäre nach der Krise fast umgefallen. Die Volksbanken AG Övag hat Geld vom Staat gebraucht und wird abgewickelt.

Theurl: Garantie gibt es nie. Und das muss ich schon sagen: In Deutschland ist der Steuerzahler noch nie für eine Genossenschaftsbank herangezogen worden – auch nicht in der Krise. (Renate Graber, 2.11.2019)