Fix im Kollektivvertrag vereinbart wurde nicht nur ein Mindestlohn, sondern auch ein Kilometergeld für Fahrer, die das eigene Rad nutzen. Arbeitgeber müssen künftig auch 20 Euro dazuzahlen, wenn die Fahrer mit ihrem eigenen Smartphone arbeiten.

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Es war eine euphorische Meldung. In Österreich ist soeben der "weltweit erste Kollektivvertrag für Fahrradboten abgeschlossen worden", teilte die Dienstleistungsgewerkschaft Vida mit. Essensauslieferer und Fahrradkuriere seien endlich "arbeits- und sozialrechtlich abgesichert".

Für eine Branche, in der oft mit Niedriglöhnen gearbeitet wird und bezahlte Krankentage für viele Fahrer nicht selbstverständlich sind, musste das wie eine Revolution klingen. DER STANDARD wollte wissen, wie der Kollektivvertrag das Arbeitsleben von Sushi-Lieferanten und Paketzustellern auf zwei Rädern verändern wird und wie es gelang, diese "Weltpremiere" im September 2019 final auszuverhandeln.

Gespräche mit Betriebsräten von Botenunternehmen, Arbeitgebern, Gewerkschaftern und Arbeitsrechtlern, Vertretern der Wirtschaftskammer sowie Kontrolleuren der Gebietskrankenkasse zeigen, dass der Eindruck, Kuriere seien künftig abgesichert, so nicht stimmt. Die Geschichte vom Kampf um die Arbeitsbedingungen in der Branche der Fahrradzusteller ist in Wahrheit nicht zu Ende, sondern hat vielleicht jetzt erst richtig begonnen. Denn was die neue Vereinbarung für Zusteller und Unternehmer bedeutet, ist selbst jenen, die in die Verhandlungen involviert sind, unklar.

Eine der letzten Lücken wird geschlossen

Dass die Vida den Kollektivvertrag feiert, liegt auf der Hand. In Österreich existieren rund 800 Tarifvereinbarungen. Sie decken 98 Prozent der Branchen ab, was ein internationaler Rekordwert ist. Nur für wenige Berufsgruppen ist es bisher nicht gelungen, einen Vertrag zu etablieren. Dort, wo es eine Lücke gibt, hat das weitreichende Auswirkungen. Arbeitnehmer haben dann keinen Anspruch auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Auch ein Mindestlohn wird in Österreich über Tarifverträge abgesichert, ebenso wie laufende Lohnerhöhungen, freie Tage bei Todesfällen oder Hochzeiten.

Bloß: Ein großer Teil der Fahrradboten, laut Schilderungen die Mehrheit, ist von den neuen Regelungen, die ab 1. 1. 2020 gelten, gar nicht betroffen. Denn sie sind als freie Dienstnehmer unterwegs, für sie gelten die Vereinbarungen nicht. Da ist zum Beispiel der Essensauslieferer Mjam, zu dem die inzwischen eingestellte Marke Foodora gehört: Laut Betriebsrätin Adele Siegl sind gerade zehn Prozent der mehr als 500 aktiven Zusteller von Mjam als unselbstständige Dienstnehmer unterwegs.

Sie decken einen Grundstock an Aufträgen ab. Der Rest? Freie. So krass dürfte das Verhältnis zwar nur hier sein. Aber auch bei anderen größeren Zustellern sind Varianten mit freien Dienstnehmern beliebt.

Die Gebietskrankenkasse prüft, ob die Arbeitnehmer richtig als Freie oder Unselbstständige eingestuft werden. Für die Kasse ist das wegen der Versicherungsbeiträge relevant. Dabei wird abgewogen: Kann der Arbeitgeber Weisungen erteilen, Dienstzeiten einteilen, stellt er Arbeitsmaterial zur Verfügung? All das spricht dafür, dass der Arbeitnehmer unselbstständig arbeitet. Wer eigenes Material nutzt, kaum Weisungen entgegennimmt, ist eher ein freier Dienstnehmer. Die Zusteller von Mjam sind mit eigenen Rädern unterwegs. Das ist ausschlaggebend dafür, dass die Gebietskrankenkasse die Einstufung als Freie akzeptiert, wie Prüfer erzählen. An dieser Konstellation ändert der Kollektivvertrag nichts.

Wird es mehr oder weniger Freie geben? Keiner weiß es

Es könnte sogar sein, dass künftig wegen des Tarifvertrags Unternehmen geneigt sind, weniger Boten einzustellen, sagen Robert Walasinski und Tobias Tschurtschenthaler. Beide verhandelten den Kollektivvertrag mit. Ersterer saß lange bei Foodora im Betriebsrat, Letzterer ist Arbeitnehmervertreter bei Pink Pedals, einem Grazer Botenlieferer. Denn freie Dienstnehmer haben kein Anrecht auf Entgeltfortzahlung bei Krankheit, kein Recht auf bezahlten Urlaub. Sie sind also billiger. Und mit dem Kollektivvertrag und seinen finanziellen Anreizen werden klassische Arbeitnehmer tendenziell teurer.

Tschurtschenthaler sieht das so: Der Kollektivvertrag sei ein Anfang. Aber die Sozialpartner sollten sich dringend um die Freien kümmern. "Denn vielen fehlt das Wissen und Bewusstsein dafür, welche Ansprüche und Anrechte ein fixes Arbeitsverhältnis mit sich bringt."

Niemand weiß genau, wie viele Fahrradkuriere es gibt. Die meisten arbeiten Teilzeit als freie Dienstnehmer, sagen Branchenkenner.
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Freilich gibt es ein Gegenargument. Die Zustellbranche ist ein bunter Haufen: Die Bandbreite reicht von Studenten, die sich was dazuverdienen und gern Rad fahren, bis hin zu Migranten aus Nicht-EU-Ländern, deren Aufenthaltsbewilligung davon abhängt, dass sie diesen Job behalten. Nicht alle wollen eine echte Anstellung. Viele bevorzugen die größere Flexibilität, wollen selbst entscheiden, wann sie fahren. Die Freien verdienen zudem oft pro gearbeitete Stunde mehr.

Mit den Verlockungen eines Kollektivvertrags könnte das Interesse der Boten an einer Anstellung steigen, hofft die Gewerkschaft. Und möglich ist ein Effekt über die Bande: Arbeitgeber müssen vielleicht die Löhne für Freie anheben, um diese halten zu können. Der Kollektivvertrag hat das Problem also nicht gelöst. Aber die Bedingungen der Auseinandersetzung, die die Branche seit langem prägt, sind neu.

Der erwähnte bunte Haufen und die Tatsache, dass die Sozialpartner bei den Radfahrern nicht etabliert sind, ist auch der Grund dafür, dass die Verhandlungen für den Tarifvertrag schwierig waren. Oft lagen die Streitpunkte gar nicht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sondern innerhalb der eigenen Reihen. Die erste große Hürde bestand also für Arbeitgeber und Arbeitnehmer darin, intern zu klären: Was wollen wir überhaupt?

Arbeitgeber sind uneins untereinander ...

Angefangen haben die Bemühungen für den Kollektivvertrag in der Branche schon 2015. Der zuständige Vertreter in der Wirtschaftskammer (WKO), Peter Tropper, erzählt, dass es die WKO war, die früh auf einen Tarifvertrag drängte. Damit sollte einer anderen Gruppe von Unternehmern geholfen werden: den Kleintransporteuren, die Pakete mit Autos ausliefern. Diese haben schon länger einen Kollektivvertrag und wollten verhindern, dass sie von Radzustellern finanziell unterboten werden können. Der Druck nahm mit der Zeit zu.

Dank Internet, Smartphones und Start-ups ist die Branche der Fahrradkuriere rasant gewachsen. Es dürfte mehrere tausend Zusteller geben in Österreich. Genau weiß es niemand. Bereits 440 Unternehmer haben eine Gewerbeberechtigung für Lasten- oder Essenszustellung per Rad. Die Bandbreite reicht von kleinen Anbietern, die in Städten von Wien bis Innsbruck Pakete, medizinische Proben, Amtsschreiben oder Essen für Kindergärten hin und her führen, bis hin zu großen Playern wie Mjam, Lieferando oder Veloce mit hunderten Fahrern.

Bei kleineren Unternehmen aus der Branche verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeitgebern- und Arbeitnehmern oft. Bei den großen Playern ist das anders.
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Diese Arbeitgeber sind in zentralen Fragen wie Löhnen, Sonntagszuschlag und Kilometergeld anderer Meinung. So war es für Mjam-Chef Artur Schreiber, der mit am Verhandlungstisch saß, ein No-Go, Zuschläge für Sonntage zu zahlen. Kleinere Unternehmer, die mitverhandelt haben, erzählen später, dass sie das "entsetzt" habe: Arbeiten am Sonntag gehöre entsprechend abgegolten. Die finale Einigung lautet: Kuriere haben das Recht auf einen freien Sonntag im Monat. Gibt es auch diesen nicht, gebührt an diesem Tag Zuschlag.

Schreiber hatte auch ein Problem mit den seiner Meinung nach hohen Abgeltungen, die es künftig geben muss, wenn Kuriere ihre eigenen Fahrräder nutzen. Im Kollektivvertrag wurde fixiert, dass es 0,14 Cent pro Kilometer gibt. Fahrer sagen, dass ein Bote um die zehn Kilometer in der Stunde fährt. Bei einer 20-Stunden-Woche bringt das Kurieren nochmal mehr als 100 Euro ein.

...diskutieren über Löhne und Zuschläge

Andere Unternehmer argumentierten, dass sie ohnehin schon mehr Kilometergeld zahlen. Unterschiedlich ist schließlich auch die Lohnpolitik der Unternehmer. Bei Mjam verdienen angestellte Fahrer ohne Zuschläge wie Trinkgeld laut Betriebsrätin Siegl aktuell um 1300 Euro brutto für einen Vollzeitjob. Künftig müssen es etwas mehr als 1500 sein. Viele kleinere Botenunternehmen zahlen schon heute mehr – und zwar 14-mal, auch ohne Kollektivvertrag.

Dort die bösen Multis, da die guten, weil generösen lokalen Betriebe: Diese Schlussfolgerung greift aber zu kurz. Die Unterschiede bei Arbeitgebern sind keine Frage der Moral, sondern des Geschäftsmodells.

Dass die kleinen Botenfirmen nichts gegen Sonntagszuschläge haben, liegt auch daran, dass sie selbst nicht oder kaum am Sonntag Fahrten anbieten. Für Mjam ist das der umsatzstärkste Tag der Woche. In der Gastronomie gibt es zudem auch keine Sonntagszuschläge.

Flo Weber, Chef von Heavy Pedals, einem kleinen Wiener Unternehmen, sagt, dass er viel Wert auf ein fixes Team lege, das für ihn fährt, und darauf, dass die Leute gute Orts- und Deutschkenntnisse haben. Dafür muss er auch höhere Löhne bieten. Mjam dagegen setzt auf viele freie Fahrer, die flexibel sind.

Konflikte gab es auch unter den Arbeitnehmervertretern: Die Fahrradboten hatten andere Vorstellungen zu den Arbeitszeiten als die Gewerkschafter. Sie stört es im Regelfall nicht, auch zehn oder mehr Stunden am Tag zu fahren, wenn man dafür später geblockt frei hat. Die Gewerkschafter waren auf der Bremse, wollten kurze Durchrechnungszeiträume und bezahlte Überstunden. In der Branche kann künftig am Tag zehn Stunden ohne Zuschläge gearbeitet werden.

Aber auch die Arbeitnehmer müssen erst klären, was sie wollen

Diese Diskussionen sind auch symptomatisch dafür, dass die Gewerkschaft Schwierigkeiten hat, Zugang zu einer neuen Generationen von Arbeitnehmern wie den Kurieren zu finden. Das liegt nicht nur daran, dass es in Botenfirmen nur selten Betriebsräte als Ansprechpartner gibt und Fahrer meist verstreut arbeiten.

In den kleinen Unternehmen der Branche verschwimmen auch die Grenzen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Hier kennt man sich oft Jahre, alle teilen ein Hobby. Das ist keine Sozialromantik, aber man schaut irgendwie aufeinander. So haben einige der kleineren Arbeitgeber mit Vertretern der Belegschaft einen Verein namens "Bike" gegründet, der die Interessen der Branche vertreten soll. Der klassischen Aufteilung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer entspricht das nicht.

Was sagen die Beteiligten zum Kollektivvertrag? Zwar erklären alle, dass sie prinzipiell viele der Regelungen wie den Mindestlohn gut finden. Aber es kommt auch viel Kritik. Mjam-Chef Schreiber sagt, der Kollektivvertrag kette Unternehmer zusammen, die wenig verbindet. Betriebsrat Tschurtschenthaler sagt, dass bei Sonntagszuschlägen mehr drin gewesen wäre.

Aber wenn alle zwar unzufrieden sind, sich aber trotzdem geeinigt haben, ist das wohl ein gutes Zeichen für die Sozialpartner. Keiner hat alles, jeder irgendetwas erreicht. Im kommenden Jahr sieht man sich wieder. (András Szigetvari, 2.11.2019)