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Verwunderlich und kitschig: Alain Badiou preist in "Petrograd, Schanghai" die chinesische Kulturrevolution als grandioses Happening ...

Foto: Reuters

Der Mauerfall 1989 gilt allen Kritikern des kommunistischen Experiments als Zeugnis von unwiderlegbarer Beweiskraft: Der Kollaps der Volksdemokratien soll der letztgültige Ausdruck eines Übels gewesen sein. Dieses soll bereits im illegitimen Zustandekommen der Oktoberrevolution 1917 seinen Ausgang genommen haben. Was den Parteigängern der Linken als Verwirklichung ihres Wunsches erschien: Die Verhältnisse umzustülpen, gerechter zu gestalten, erschien den Revolutionsgegnern von vornherein als Ausdruck von Hybris – und als Freibrief für die unbedenkliche Ausübung systematischer, terroristischer Gewalt.

Was aber, wenn der auf Massenbasis gestellte Terror, ab 1929 verübt von Stalin und Gehilfen im Bestreben, den "Sozialismus in einem Land" aufzubauen, der Sache der Revolution äußerlich geblieben wäre? Für die Verteidiger einer revolutionären Option verfehlt jeder bürgerlich-demokratische Einspruch die wahre Dimension des wahrhaft "singulär" zu nennenden Ereignisses, das sich Revolution nennt (oder schimpft).

Revolutionäre wie Chirurgen

Denker wie der Maoist Alain Badiou oder Lacanist Slavoj Žižek (Jacques Lacan war psychoanalytischer Philosoph, Anm.) winden jeder wahren Revolution echte Kränze. Für die liberal-demokratische Zimperlichkeit, die vor allen Gewaltexzessen gegen Leib und Eigentum zurückschreckt, haben sie Ratschläge parat. Wer Revolution sagt, teilt das Schicksal jedes angehenden Chirurgen: Er sollte darauf schauen, dass er, wenn es zur Sache geht, Blut sehen kann. Der Gehalt solcher Unterweisungen besteht aber auch in dem Hinweis, die Schriften von Hegel, Lenin (und Mao) einer genaueren, nunmehr angeblich zutreffenden Lektüre zu unterziehen.

Am besten geht das natürlich mit einem Witz. Vor nicht allzu langer Zeit reflektierte Žižek die Eigenschaft des originären revolutionären Impulses, die Dinge auf Anfang zu stellen (Buch Lenin heute). Wer das kommunistische Projekt auch nach 1989 erneuern möchte, wird mit den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, mit dem Staatssozialismus und dessen Planwirtschaft brechen müssen.

Solch Denken bemüht sich, den ideellen Gehalt zu retten, um die Option einer "linken" Alternative gegen das Neoliberale aufrechtzuerhalten. Erscheint der real verwirklichte Kommunismus als unannehmbar, dann handelt es sich um keinen richtigen Kommunismus.

Jede totalitäre Verfehlung wäre nur als parasitäre Verfestigung eines inakzeptablen Zustands anzusehen oder als Durchgangsstadium. Es wäre wie in dem von Žižek erzählten Psychoanalytiker-Witz: "Meine Verlobte kommt nie zu spät, wenn wir verabredet sind. Denn wenn sie einmal zu spät kommt, ist sie nicht mehr meine Verlobte!"

Doch manchmal kommt die Revolution doch. Sie bildet zufolge ihres Bruchs mit dem Ist-Zustand ein "Wahrheitsereignis". Sie treibt den Vertretern der besitzenden Klasse(n) mit eisernem Besen – und Brutalität – die formal-demokratischen Flausen aus. Denn nicht das Wahlprozedere sichert den an der Demokratie Beteiligten deren Freiheit. Die Sache muss laut Zizek und Badiou unbarmherziger angegangen werden.

Radikale Forderungen

Die "menschlichen Tiere" (Badiou) gehören aus ihren Gewohnheiten gerissen. Das Pathos des Nullpunkts liefert den toxischen Stoff für jede vorauseilende Euphorie: Jeden Revolutionsausbruch begleiten radikale Forderungen nach der Verwirklichung einer neuen Universalität. Nur sie birgt die Erlösung für alle. Alles Aufschiebende vereitelt bloß die Erwartungen der Menschen. Und so reibt man sich ein wenig ungläubig die Augen, wenn Badiou in Petrograd, Schanghai die chinesische Kulturrevolution (1966-1976) als grandioses Happening angewandter, kommunistischer Volksweisheit preist: Indem die "Garden", von Mao Zedong am Parteiapparat vorbeigeschleust, die Unruhe in Permanenz in die Gesellschaft hineintrugen. Eine "enorme aufständische Konstellation" (Badiou)! Sie kostete unzählige Leben, verführte junge Chinesen zur Denunziation ihrer Älteren und vernichtete einen Großteil des kulturellen Erbes.

Und so steht trotz allem Unbehagen zu hoffen, dass es auch einer noch so jähzornigen Greta Thunberg nicht einfallen wird, allen kapitalistischen Mitverursachern des Klimawandels Papierhüte mit frischen Revolutionsslogans aufzusetzen.

Das merkwürdig unbedenkliche Gefallen an der Vorstellung von der großen "Reinigung" sollte – 30 Jahre nach dem Mauerfall – passé sein. Deshalb muss man dem Kapitalismus nicht huldigen. Eher schon könnte man es mit Jeremy Glick halten: Die Kunst der Politik bestehe nicht darin, Fehler zu vermeiden. Es gehe, mit Blick auf revolutionäre Optionen, darum, "die richtigen Fehler zu machen" – sich für die passende falsche Option zu entscheiden. (Ronald Pohl, 4.11.2019)