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Das finale Finale.

Foto: NTB Scanpix/Berit Roald via REUTERS

Oslo – Vor dem Henie Onstad Museum für moderne Kunst in Oslos Villen-Vorort Baerum stehen zwei riesige Übertragungswägen der norwegischen Fernsehstation NRK. Wenn Magnus Carlsen um eine Schachweltmeisterschaft spielt, und das noch vor heimischem Publikum, dann fiebert das ganze Land mit. In viele Stunden dauernden Live-Übertragungen serviert das norwegische Fernsehen der Nation Spitzenschach ins Wohnzimmer. Ergebnisse der Fußball-Champions-League oder anderer sportlicher Großereignisse laufen inzwischen am unteren Bildrand als Kurzinfo durch.

Aber an diesem Samstag hängt auf der malerisch ins norwegische Meer hineinragenden Landzunge, auf der sich der Spielort befindet, der Carlsensche Haussegen schief: Der Weltmeister ist übellaunig wie lange nicht mehr. Er spielt schlecht. Er verliert Partie um Partie. Er hat in diesem Finale, in dem er doch klarer Favorit war, noch keinen einzigen Sieg gelandet.

Sensationeller So

Trotzdem sind die lokalen Fans wochenendbedingt in an den Vortagen noch nicht gesehenen Scharen in das architektonisch ansprechende Gebäude am Osloer Stadtrand gepilgert, um ihrem Star die Daumen zu drücken: Der verdunkelte, an ein Fernsehstudio erinnernde Spielsaal ist gesteckt voll mit Zuschauern. Ständig schleppen die Veranstalter neue Sessel herbei, um wenigstens dem Großteil der zahlenden Besucher einen Sitzplatz bieten zu können.

Während eingefleischte Carlsenfans noch tapfer auf ein Wunder hoffen, genügt dem unvoreingenommenen Betrachter ein Blick auf die nackten Zahlen: 10,5:1,5 steht es vor dem letzten Spieltag für Wesley So, der drei der vier langsamen Rapid-Partien an den beiden ersten Finaltagen für sich entscheiden konnte und Magnus Carlsen nur ein mickriges Remis gönnte.

Beeindruckend ist aber nicht nur dieses Ergebnis, sondern vor allem der universelle Stil, in dem der junge Amerikaner seinen hoch favorisierten Gegner dreimal an die Wand spielte. Nach den beiden hochklassigen taktischen Gefechten an Tag eins schaltet So am zweiten Finaltag auf positionelle Würgeschlange um: In einer französischen Struktur hängt er dem Weltmeister scheinbar mühelos ein typisch unangenehmes Endspiel mit schlechtem weißfeldrigem Läufer an und führt es schlicht und überzeugend zum Sieg.

Krawalliger Carlsen

Carlsen, der bekanntermaßen ungern verliert, muss damit die zweite Niederlage in Folge quittieren und erscheint zur vierten Partie folgerichtig in Krawalllaune. Anstatt den weißen Anzugsvorteil wie sein Kontrahent in Partie drei zur Besetzung des Zentrums zu nutzen, tut der Weltmeister etwas Unerhörtes: Er eröffnet das Spiel mit 1.a2-a4 – und läßt darauf auch noch die aus dem Handgelenk gespielten Züge 2.a5 und 3.a6 folgen.

Während Schachlehrer in aller Welt ihren Eleven die Augen zuhalten, damit sich die lieben Kleinen nur ja kein Vorbild an diesem antipositionellen Ausritt des Weltmeisters nehmen, betrachtet Wesley So sich die Sache gelassen – und tut, was von Wilhelm Steinitz bis Mikhail Botwinnik jeder Theoretiker, der etwas auf sich hält, empfehlen würde: Er besetzte mit e5 und d5 das Zentrum und macht sich dann daran, in aller Ruhe seine Figuren zu entwickeln.

Drei Streiche

Carlsen, in dem es sichtlich brodelt, bricht nun mit drei Zügen Entwicklungsrückstand das Zentrum auf und schickt als einzigen Offizier ausgerechnet seine Dame in die Schlacht gegen Sos sich zur Attacke formierende Armee. Es ist, für jeden Patzer ersichtlich, ein Himmelfahrtskommando der Sonderklasse. So treibt Carlsens Dame von hierhin nach dorthin, gewinnt dabei Raum und weitere Entwicklungstempi. Dann lässt er seinen Läufer, taktisch fundiert, in Carlsens Königsstellung krachen.

Nach zwölf Zügen sitzt der Weltmeister mit Weiß vor den Trümmern seiner Stellung. Er wird seine dritte Niederlage in Folge gegen Wesley So quittieren und vor dem letzten Spieltag praktisch chancenlos zurückliegen. Das weiß Carlsen in diesem Augenblick bereits, auch wenn er die Partie noch bis in ein verlorenes Turmendspiel schleppt.

Am samstäglichen letzten Finaltag lautet die Hauptfrage daher: Reißt Carlsen sich wenigstens noch ein bisschen am Riemen? Fährt er den einen oder anderen Sieg ein und rehabilitiert sich damit, bevor Wesley So, der nur noch zwei von zwölf zu vergebenden Punkten für den Matchsieg benötigt, den Sack schließlich zumacht?

Kurz und schmerzlos

Das Ritual zu Beginn des Spieltages, bei dem die Spieler vor einem Monitor Aufstellung nehmen, um sich die ausgeloste Anfangsstellung zu betrachten, verheißt im Sinne dieser Hoffnung nichts Gutes. Carlsen schlurft mit verwurschteltem Sakkokragen herein und schaut dabei aus der Wäsche, als würde er die Angelegenheit nur so schmerzlos wie möglich hinter sich bringen wollen. Auf die rituelle Frage des norwegischen Fernsehteams, wie ihm die neu ausgeloste Position gefällt, antwortet Carlsen auf Norwegisch so knapp, dass der Interviewer sofort in Richtung Wesley So abdreht und dabei fast seinen Kameramann über den Haufen rennt.

Wesley ist dagegen wie schon das ganze Turnier über in Plauderlaune, bezeichnet die neue Position als interessant und weist auf die beiden ungedeckten Bauern a2 und g2 (bzw. a7 und g7) als besonderes Element in dieser Ausgangsstellung hin. Er liebt Fischerschach einfach, und bei diesem Matchscore vielleicht noch ein wenig mehr. Dann ziehen sich die Spieler in ihre Ruhe- und Analyseräume zurück, wo sie sich eine Viertelstunde von Computern und anderen Sekundanten unterstützt auf die Partie vorbereiten dürfen.

Danach geht alles sehr schnell. Und das liegt nicht nur daran, dass am letzten Finaltag 15-Minuten-Partien gespielt werden. Carlsen hat in der ersten Partie Weiß, ein Sieg müsste her, wenn er wenigstens noch den Anschein erwecken will, dieses Match drehen zu können. Immerhin läuft der Weltmeister heute nicht gleich Amok auf der a-Linie. Er versucht stattdessen nach beiderseits ruhiger Eröffnungsbehandlung einen langsamen Angriff auf Sos Königsstellung aufzubauen.

Im Stile Karpows

Wesley So aber ist Carlsen immer mindestens einen Schritt voraus. Er wehrt Carlsens Drohungen schon ab, bevor sie noch konkret werden. Nach 28 Zügen bietet der Norweger mit einer Zugwiederholung still Remis an. So akzeptiert ohne zu zögern, obwohl er über deutlich mehr Zeit und die klar bessere Stellung verfügt. Aber: Der US-Amerikaner braucht nach diesem Resultat nur noch ein Remis aus den verbleibenden drei Schnellpartien, um den Weltmeistertitel zu erringen.

Das sollte für einen Großmeister vom Kaliber Sos immer machbar sein. An diesem Tag, und angesichts der Verfassung seines Kontrahenten, ist es fast eine Fingerübung. In der zweiten Schnellpartie beweist So ein weiteres Mal, warum seinem Stil eine Verwandtschaft mit der Spielphilosophie eines Anatoli Karpow nachgesagt wird: So spielt einfache, unspektakuläre, aber ungemein starke Züge, die Carlsen keinerlei Ansatz für eine Initiative bieten. Der Norweger läuft angesichts des Matchscores notgedrungen mit dem Kopf gegen die Wand, opfert erst einen Bauern, dann eine Figur – nur um anstatt einen gefährlichen Angriff zu bekommen, bald selbst in einem Mattnetz zu zappeln.

Nach 29 Zügen sind Partie und Match vorbei: Wesley So fügt Magnus Carlsen mit einem Gesamtscore von 13,5:2,5 die sicherlich vernichtendste Matchniederlage zu, die der Weltmeister des klassischen Schachs jemals zu verkraften hatte. Der von den Philippinen stammende US-Amerikaner, aktuell Nummer zwölf der klassischen Weltrangliste, krönt sich damit zum ersten vom Weltschachbund FIDE offiziell anerkannten Fischerschach-Weltmeister der Geschichte. Magnus Carlsen bleibt nur der Vizeweltmeistertitel, die Bronzemedaille geht an den Russen Jan Nepomnjaschtschi, der sich in kleinen Finale ebenfalls überraschend deutlich gegen Fabiano Caruana durchsetzt.

Achtmal so gern

Auf die Frage dieses Reporters, ob So eine weitere Professionalisierung von Fischer Random, mit mehr Turnieren und längerer Bedenkzeit, gutheißen würde, äußert sich der neue Weltmeister direkt im Anschluss an seinen Triumph positiv: "Definitiv. Ich glaube, eine klassische Bedenkzeitregelung für Fischer Random, mit vielleicht 90 Minuten pro Partie, wäre keine schlechte Idee." Danach stürzt der Champion sich in die Traube norwegischer Kinder, die alle ein Autogramm vom ersten Weltmeister jener schachlichen Metamorphose wollen, die vielleicht die Zukunft des königlichen Spiels sein könnte.

Fischerschach ist mit dieser äußerst spannenden und spektakulären ersten WM jedenfalls einmal nachdrücklich in der Gegenwart angekommen. Und Wesley So, der schon zu Beginn des Turniers die Herzen der norwegischen Fans durch explizites Lob für Land, Leute und Spielbedingungen gewonnen hat, ist ein mehr als würdiger erster Weltmeister jener Disziplin, die er eigener Aussage nach "achtmal so gerne wie normales Schach" spielt. (Anatol Vitouch aus Oslo, 2.11.2019)