Die Debatte über Peter Handkes Haltung zum Jugoslawien-Krieg nimmt kein Ende: Vor der schwedischen Botschaft in Priština (Kosovo) wurde gegen die Nobelpreisentscheidung demonstriert.

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Der Besuch wird in Sarajevo als ein Versuch der königlichen Familie gesehen, die guten Beziehungen zu Bosnien und Herzegowina zu unterstreichen und die Wogen zu glätten. Diese Woche kommen die schwedische Kronprinzessin Viktoria und die stellvertretende Regierungschefin Isabella Lövin in die bosnische Hauptstadt. Zahlreiche Schweden mit bosnischen Wurzeln – etwa 80.000 leben in dem skandinavischen Land – hatten in den vergangenen Wochen gegen die Entscheidung der von König Gustav III. gegründeten Akademie protestiert, dem Schriftsteller Peter Handke den Literaturnobelpreis zu verleihen.

Auch im Kosovo gab es Proteste vor der schwedischen Botschaft. Der albanische Premierminister Edi Rama warf der Akademie vor, den Wert des Preises mit ihrer Entscheidung für Jahrzehnte herabgesetzt zu haben.

Geschichtsklitterung

Der Vorsitzende des bosnischen Staatspräsidiums, Željko Komšić, hat zudem einen Protestbrief an die Akademie gerichtet. Denn Handke hat seit dem Erscheinen seines Buches "Gerechtigkeit für Serbien" im Jahr 1996 sowohl in weiteren Schriften als auch in Interviews die Ursachen für die Kriege und den Verlauf der Kriege in Kroatien, in Bosnien und Herzegowina und im Kosovo umgedeutet und immer wieder die Schuld für die Verbrechen umgedreht und damit Opfer zu Tätern gemacht. Er hat sich zudem hinter das damalige völkisch orientierte und kriminelle Regime von Slobodan Milošević in Serbien gestellt.

Kürzlich haben die Literaturwissenschafter Alida Bremer und Vahidin Preljević auf ein Interview mit Handke aus dem Jahr 2011 aufmerksam gemacht, in dem er nochmals die Theorie vertritt, die Massengewalt rund um Srebrenica im Juli 1995, bei der mehr als 8.000 Menschen getötet wurden, weil sie muslimische Namen hatten, sei eine Racheaktion gewesen. Das hatte er bereits in seinem Buch "Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise" behauptet, wo er von einem "Rachemassaker" schrieb. Ein weiteres Mal hat er das in einem Text im Jahr 2006 erklärt, der in "Libération" und der "Süddeutschen Zeitung" erschien. Auch damals bezeichnete er die Massengewalt in Srebrenica fälschlicherweise als "schreckliche Rache" und demnach als Reaktion.

Ethnische Säuberung bereits ab 1992 im Drina-Tal

Wenn Handke etwa das Massaker an Serben in dem Dorf Kravica zu Weihnachten 1993 als Ursprung der Gewalt darstellt, dann ist das nicht nur zeitlich betrachtet falsch. Denn Kriminelle, die in Serbien aus dem Gefängnis entlassen worden waren, und Freischärler hatten bereits im Frühjahr 1992 begonnen, das Drina-Tal ethnisch zu säubern und Nichtserben entweder zu vertreiben oder zu ermorden. Die zahlenmäßig schlimmsten Verbrechen fanden bereits 1992 statt – 1995 waren die Fakten darüber längst bekannt.

Laut dem "Bosnischen Totenbuch" wurden im Drina-Tal 28.135 Menschen getötet, davon 80 Prozent Menschen mit "muslimischen Namen", nämlich 22.472. Und davon waren wiederum 15.400 Zivilisten, also 68,5 Prozent. Der Genozid in Srebrenica 1995 war der Abschluss der vorangegangenen Verbrechen. Viele Menschen, die ihm zum Opfer fielen, waren zwei, drei Jahre zuvor aus den umliegenden Dörfern in die Stadt Srebrenica geflohen, die als Schutzzone fungieren sollte. Denn die Armee der Republika Srpska hatte damals zum Ziel, einen Teil von Bosnien-Herzegowina "ethnisch zu säubern", sodass hier nur mehr Serben leben sollten, um diese Region später an Serbien anzuschließen und ein Großserbien zu schaffen.

Unterstützung für völkische Nationalisten

Richtig ist, dass auch Serben in dem Krieg getötet wurden und es Verbrechen von Bosniaken gegen Serben gab. Im Jahr 1993 wurden im Drina-Tal 1.063 Serben getötet, 929 von ihnen waren Soldaten. Die meisten Serben wurden 1992 in der Region getötet, nämlich 2.829, von ihnen waren fast 80 Prozent Soldaten. Die unrichtige Darstellung der Ereignisse durch Handke verletzt aber nicht nur die Angehörigen der Opfer, sondern unterstützt auch den stark vorhandenen politischen Revisionismus in Bosnien-Herzegowina – Handke ist schließlich ein Multiplikator. Viele Verbrechen werden bis heute von völkischen Nationalisten geleugnet oder verharmlost. Das ist insofern brisant, als die völkischen Nationalisten nach wie vor an der Macht sind und von Rechtsextremen aus anderen Teilen Europas unterstützt werden.

Nach dem Hinweis auf das Interview Handkes in den "Ketzerbriefen" wandte sich nun auch der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, Mats Malm, mit einer Erklärung an die Kulturredaktion des schwedischen Fernsehens, in der sich Handke völlig von den Zitaten in den "Ketzerbriefen" distanzierte.

Interview in den "Ketzerbriefen"

Die Frage ist nun, ob Handke gegen die "Ketzerbriefe", in denen rechtsextreme und linksextreme Positionen aufeinandertreffen, auch eine Unterlassungsklage einbringen wird, denn er schreibt in der Aussendung, die Aussagen in den "Ketzerbriefen" gar nicht getätigt zu haben: "Ich kann mir auch nicht vorstellen, diese Sätze in dieser Form so gesagt zu haben." Peter Priskil, der mit dem Revisionisten Boris Krljić – alias Alexander Dorin – das Interview im Jahr 2011 gemacht hat, hat laut Krljić das Gespräch mit Handke aufgenommen. Zur Klärung der Tatsachen würde es nun maßgeblich beitragen, wenn die Tonbänder veröffentlicht würden. Denn dann könnte sich auch die Öffentlichkeit ein Bild davon machen, was Handke nun tatsächlich gesagt oder nicht gesagt hat.

Handke ist mit seinem irrigen Geschichtsbild jedenfalls keineswegs allein. Der britische Historiker und Südosteuropa-Experte Marko Attila Hoare beschrieb 2003 die Denkschemata der "linken Revisionisten", wie er sie nennt. Sie ethnisieren den Konflikt und erklären ihn ausschließlich als Bürgerkrieg zwischen Nationalitäten. Auch Handke tut das.

Milošević-Regime politisch verteidigen

Laut Hoare versuchen diese Revisionisten die negative Bewertung des Milošević-Regimes durch politisch etablierte Kommentatoren zu revidieren, den Völkermord zu leugnen, die Gewalt und das Leid der Kriege im ehemaligen Jugoslawien herunterzuspielen und die Schuld für diese Gewalt und dieses Leid sowie für die Auflösung Jugoslawiens auf das westliche Bündnis zu verlagern. Eine Rolle bei dieser Geschichtsklitterung spielt auch der Antiamerikanismus. Doch: "Der Fokus der linken Revisionisten liegt weniger darauf, die USA als ein Übel an und für sich anzuprangern – obwohl dies eindeutig ein Element ist –, als darauf, das Milošević-Regime politisch zu verteidigen", so Hoare.

Diese Revisionisten gründeten ihre Analyse des Zusammenbruchs Jugoslawiens auf die falsche Prämisse, dass der Westen – da Serbien in ihren Augen in gewissem Sinne ein "sozialistischer" Staat war – ihm feindlich gegenüberstehen sollte, ungeachtet aller gegenteiligen Beweise, erklärt der Südosteuropaexperte. "Sie erfanden daher eine westliche Verschwörung, um den jugoslawischen Zusammenbruch und die anschließenden Niederlagen von Miloševićs Serbien zu erklären." Alle, die sich gegen das tatsächlich völkisch orientierte kriminelle Regime von Milošević wandten, wurden von ihnen angegriffen.

"Solche Propaganda: ja — für einmal ja!"

Handke etwa bezeichnete 2007 im "Profil" die serbische Dramatikerin Biljana Srbljanović als "Westhure" und übernahm gleichzeitig die Propaganda des Regimes. In seinem Buch über seine Reise nach Serbien (nicht in den Kosovo) während der Nato-Intervention 1999 lobt er sogar die Propagandasendungen mit Tanzgruppen, Soldaten und Flaggen, die er im Fernsehen sah.

"Dieses Land sieht sich von einer unbezwingbaren Übermacht bedroht, umzingelt, eingekesselt — und was tut es? Es zieht sein ältestes und feiertäglichstes Gewand an, und warum nicht seine schönste Volkstracht?, und es tanzt seine ältesten und traditionellsten Tänze. Es singt. Es zeigt und erzählt, so bedroht, die friedlichsten und unschuldigsten der Bilder von sich selbst — auch wenn diese sonst oft lügen, jetzt, im Not- und Bedrängnisfall, lügen sie einmal nicht —, es weist hin auf die, welche es, das Land, schützen werden (wenn sie dazu imstande sind ...), die Soldaten, es zeigt seine Flagge, seine Landesfarben, vor dem wie freien weiten bomberlosen Himmel. Solche Propaganda: ja — für einmal ja! Und selbst die dazu wiederholte Propaganda-Formel von der 'faschistischen Aggression der Nato': für einmal ja zu solcher Formel", schreibt er in dem Text.

Gegen Nato-Intervention

Handke war gegen die Nato-Intervention im Kosovo, mit der der Krieg zwischen serbischen Einheiten und der Kosovo-Befreiungsarmee UÇK beendet wurde. Nach der Massengewalt in Srebrenica hatten sich Politiker in den Nato-Staaten und Vertreter der Zivilgesellschaft für ein gewaltsames Vorgehen gegen das Regime entschieden, weil man die berechtigte Sorge hatte, dass die ethnischen Säuberungen, die es in Bosnien und Herzegowina gab, andernfalls im Kosovo wiederholt würden.

Liest man Handkes Bücher über den Bosnien- und den Kosovo-Krieg, so ist offensichtlich, dass er ohne zu hinterfragen vieles von dem übernimmt, was ihm die Leute, mit denen er zu tun hat, erzählen. In dem Interview mit den "Ketzerbriefen" räumte er ein, dass er 1995 nach Serbien gefahren war – wo übrigens gar kein Krieg stattgefunden hatte –, "ohne irgendetwas zu wissen".

Besuch bei Karadžić

1996 besuchte Handke übrigens in Pale den damals bereits wegen Kriegsverbrechen angeklagten und international gesuchten rechtsextremen bosnischen Politiker Radovan Karadžić, der mittlerweile unter anderem wegen des dreieinhalbjährigen Dauerbeschusses von Sarajevo zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde. Handke und Karadžić tauschten Bücher aus, es wurde Schnaps getrunken.

Doch Handke traf nicht nur Karadžić, sondern auch General Jovan Divjak im Stab der Armee von Bosnien-Herzegowina in Sarajevo, der die Stadt währen der Belagerung verteidigt hatte. Der damalige österreichische Botschafter Valentin Inzko hatte Handke zu Divjak gebracht. Dieser erinnert sich, dass er Handke erzählte, dass auch seine Bücher durch die Granaten der Armee der Republika Srpska in der Nationalbibliothek in Sarajevo im August 1992 verbrannten.

Gespräch mit Divjak

Divjak erzählte Handke vom Beschuss der Zivilisten in der Fußgängerzone Ferhadija am 27. Mai 1992, auf dem Markale-Markt am 4. Februar 1994 und am 28. August 1995. Er erzählte über die 1.000 Kinder, die auf Schulhöfen und Spielplätzen und sogar im Klassenzimmer getötet wurden. "Handke fragte, wie ich als Serbe in einer muslimischen Armee verblieben sei. Ich erklärte, dass es sich um eine Armee von Serben, Kroaten, Muslimen und allen anderen Bürgern handelte und dass es meine berufliche Pflicht gewesen sei, auf der Seite der Bürger zu stehen, die von bis an die Zähne von der Jugoslawischen Volksarmee bewaffneten bosnischen Serben angegriffen wurden."

Das Interview dauerte ungefähr eine halbe Stunde. "Er hörte zu, schien mir uninteressiert, erweckte nicht den Eindruck, dass diese Information ihn berührt hatte oder er sich irrte", so Divjak zum STANDARD. Jedenfalls floss das Gespräch nicht in Handkes Denken und Texte ein. (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 4.11.2019)