Links Türkis, rechts Grün. Bis Freitag beraten die Sondierungsteams über ihre Kernthemen Klimakrise, Wirtschaftsflaute, Migration, Bildung und Transparenz.

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Im Gastkommentar tritt der Kulturwissenschafter Christoph Landerer für eine differenziertere Debatte um Asyl- und Migrationspolitik ein. Die Parteien sollten über den Tellerrand blicken – etwa in die Schweiz oder nach Neuseeland.

Es sind harte Nüsse, die die türkisen und grünen Sondierungsteams zu knacken haben. Fünf "Kernthemen" wurden definiert; erhebliches Kopfzerbrechen dürfte das Themenfeld illegale Migration und Asyl bereiten – vor allem bei der Frage von Asylwerbern in Lehre liegen die Positionen weit auseinander.

Dabei könnte es durchaus helfen, dass sich beide Seiten auf Extremstandpunkte eingeschworen haben, denn nur auf diese Weise ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen möglich, das zu einer pragmatischen Neuausrichtung führen kann. Worum also geht es genau, und worin liegt das Problem?

2012 ermöglichte ein Erlass des Sozialministeriums die Öffnung der Lehre in sogenannten Mangelberufen für Asylwerber, zunächst bis zu einer Altersgrenze von 18 Jahren, 2013 ausgeweitet auf 25 Jahre. Die Regierung Kurz nahm die Regelung 2018 zurück; seither ist Asylwerbern der Weg zur Lehre wieder versperrt. Während die Grünen vehement die alte Regelung einfordern, beharrt die ÖVP auf der Rücknahme des Erlasses. Beide Seiten haben nachvollziehbare Argumente vorgebracht. Die Grünen verweisen auf die nachteiligen Folgen einer Verhinderung frühzeitiger beruflicher Integration, die ÖVP betont die Priorität einer Integration anerkannter Asylwerber und stemmt sich gegen eine Vermengung von Asylzuwanderung und ökonomischer Migration.

Von der Schweiz ...

Die österreichische Debatte wäre weniger verfahren, wenn die daran beteiligten Parteien über den Tellerrand blicken und Lehren aus der Situation in anderen Ländern ziehen würden. Doch ihr Hauptinteresse besteht in der Erzeugung von "Spin", das heißt darin, die Bevölkerung auf eine der beiden Seiten zu ziehen, und so liefert auch keine dieser beiden Seiten eine differenzierte Antwort auf die Probleme.

Eine solche differenzierte Antwort hat etwa die Schweiz gefunden, sie priorisiert Asylwerber mit geringer Asylchance. Je rascher über wenig aussichtsreiche Fälle entschieden werden kann, umso schneller lassen sich Rückführungen organisieren, umso weniger Ressourcen werden blockiert und umso geringer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich nach Jahren eine bleiberechtliche Perspektive eröffnet, die im eigentlichen Asylverfahren keine Grundlage hat.

Der Nachteil eines solchen Systems sind die dadurch entstehenden längeren Wartezeiten für jene, die im Verfahren gute Karten haben. Syrer etwa warten in der Schweiz ganze drei Jahre auf ihren Asylbescheid. Doch syrische Asylwerber haben eine hohe Bleibewahrscheinlichkeit, und der Staat fühlt sich dem Grundsatz verpflichtet, "das Asylsystem nicht unnötig durch Personen zu belasten, die keinen Schutz benötigen".

Die Bandbreite der Asylchancen ist auch in Österreich enorm. Während syrische Asylwerber zurzeit mit einer Asylchance von knapp 90 Prozent rechnen können, sind es etwa bei Asylwerbern aus Pakistan 4,4 Prozent, 1,5 Prozent bei Nigeria und weniger als ein Prozent bei Asylwerbern aus dem Maghreb. Hier erschweren eine berufliche Integration und die damit verbundene Aufenthaltsverfestigung die Durchsetzung eines negativen Bescheids.

Ein neu gestaltetes differenziertes Verfahren wäre in keiner Weise exotisch, im Rahmen der bundesweit vorgesehenen "Ankerzentren" ist es etwa bereits im deutschen Koalitionsvertrag verankert. Kommunale Verteilung ist hier nur für jene vorgesehen, die über eine "gute Bleibeperspektive" verfügen. Diese Gruppe ist der primäre Adressat von Integrationsbemühungen, Asylwerber mit geringer Asylchance dagegen werden nicht beruflich qualifiziert und sind mit einer Residenzpflicht belegt.

... oder Neuseeland lernen

Wird diese zweite Gruppe, wie in der Schweiz, zudem prioritär behandelt, dann reduzieren sich hier die Wartezeiten, während Verzögerungen, die in der Gruppe mit hoher Bleibechance entstehen, integrativ abgefangen werden können. Ein differenziertes System sollte also weder alle noch keinen integrieren, wie es die Vorschläge von Grünen und ÖVP vorsehen, sondern flexibel auf unterschiedliche Ausgangslagen reagieren können. Für eine solche Lösung müssten sich beide Seiten in etwa gleich weit aufeinander zubewegen.

Sollte es für echte Koalitionsgespräche dennoch nicht reichen, dann wäre den Grünen ein Blick nach Neuseeland zu empfehlen. Dort stützt die grüne Schwesterpartei eine Minderheitsregierung; ein analoges Übereinkommen mit ÖVP und Neos wäre noch immer besser als die Rückkehr zum türkis-blauen Status quo ante.

Von Neuseeland ließe sich auch lernen, wie Asylfragen auf pragmatische Weise verhandelt werden: Die neuseeländischen Grünen fordern eine Anhebung des staatlichen Resettlement-Volumens, aber sie schätzen Kosten und machen Finanzierungsvorschläge. Sollten die Antragszahlen weiterhin niedrig bleiben, dann wäre eine Wiederauflage staatlicher Resettlement-Programme übrigens ein weiterer Punkt, in dem sich ÖVP und Grüne treffen könnten – von Sebastian Kurz im Wahlkampf 2017 angekündigt, wurde eine Fortsetzung der Programme vom blauen Innenministerium blockiert.

Es gibt reichlich Möglichkeiten, Asylpolitik pragmatisch zu gestalten – wenn sich ein gemeinsamer Umsetzungswille mit den richtigen Ideen verbindet, sollte jedenfalls diese Hürde zu meistern sein. (Christoph Landerer, 3.11.2019)