Nach dem 32:12-Finalsieg über England feiern Südafrikas Springböcke ausgelassen. Kapitän Siya Kolisi hält stolz den Webb Ellis Cup.

Foto: imago images/Kyodo News

Der Platz in Newtown, einem zentral gelegenen Stadtteil von Johannesburg, ist zum Bersten gefüllt, das Bier fließt in Strömen, die Stimmung steigt. Unter den Zuschauern befinden sich nur ganz wenige hellhäutige Gesichter – und kaum einer, der den Regeln der über den riesigen Bildschirm flimmernden Sportart gewachsen wäre.

Wenn der Schiedsrichter pfeift, schauen sich die Zuschauer ratlos an: Erst wenn sich einer der in Grün gekleideten Kolosse, die aus welchen Gründen auch immer "Springböcke" heißen, den Ball zu einem der zahllosen Strafstöße zurechtlegt, nimmt der Geräuschpegel bedrohliche Stärke an. Rugby gilt in Südafrika noch immer als Sportart der weißen Minderheit – vor allem der burischen Farmersöhne, die der übermäßige Fleischgenuss in bullige Kraftmaschinen verwandelte. Zumindest war das bis zum vergangenen Samstag der Fall.

Das Finale der Rugby-Weltmeisterschaft im japanischen Yokohama hat auch das – gemeinsam mit den englischen Gegenspielern – über den Haufen geworfen. Erstmals in der Geschichte der von den britischen Kolonialherren ans Kap der Guten Hoffnung gebrachten Sportart haben sich nicht nur ein oder zwei dunkelhäutige Alibi-Exemplare unter den Springböcken befunden: Mehr als ein Drittel der 31 Mitglieder des südafrikanischen Nationalteams sind inzwischen schwarz, sie werden sogar von einem schwarzen "Bokke", Siya Kolisi, angeführt.

Wann immer der 28-jährige Flanker in den Besitz des ovalen Balls gerät, geht ein Aufschrei durch die Massen. Und wenn der 116 Kilogramm schwere Tendai Mtawarira in den Mittelpunkt des Geschehens rückt, werden respektvolle Rufe "das Biest, das Biest" laut.

"Wir gehören alle zusammen"

Im ersten und entscheidenden "Try" der Südafrikaner in der 67. Minute sind sogar zwei dunkelhäutige Böcke maßgeblich beteiligt: Lukhanyo Am und Makazole Mapimpi, der das lederne Ei schließlich über die Ziellinie trägt. Jetzt gibt es in Newtown kein Halten mehr: Das Bier schießt in Fontänen über die Menge, die Zuschauer singen Befreiungslieder wie in den Zeiten des Kampfs gegen die weiße Minderheitsregierung. Nur dass dieses Mal die bleichgesichtigen Südafrikaner keine Feinde mehr sind: "Wir lieben euch", ruft ein junger Schwarzer, dessen Barret ihn als Mitglied der Jugendliga des regierenden Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) zu erkennen gibt, "wir gehören alle zusammen".

In vielen Ländern der Welt löse Rugby leidenschaftliche Reaktionen aus, meint ein südafrikanischer Sportkommentator: "Doch nur hier kann der Sport die Nation verändern." Erinnerungen an 1995 werden wach, als Nelson Mandela die Rugby-WM für seinen Versuch nutzte, der gespaltenen Nation eine gemeinsame Identität zu geben.

Damals wurde erstmals von der "Regenbogennation" gesprochen. Zwischendurch war der etwas vollblumige Begriff aus der Mode gekommen: Erst seit Samstag ist wieder vom Regenbogen die Rede – und vom Topf aus Gold, der an seinen Enden steht. Tatsächlich ist es das dritte Mal, dass sich Südafrika im Rugby die Goldmedaille geholt hat – das haben sonst nur die legendären "All Blacks" aus Neuseeland geschafft.

Englands Brexit

Und England? Nach dessen Sieg gegen die All Blacks im Halbfinale waren sie als Favoriten ins Finale gezogen: Doch gegen die schwarz-weißen Springboks hatten sie nur kurz, in der Mitte der ersten Halbzeit, eine Chance. In Hälfte zwei brachen sie gegen die um die Zukunft ihres Landes kämpfenden Südafrikaner zusammen und verloren 32:12. "Wir haben ihnen endlich ihren Brexit gebracht", feixte ein Fan via Twitter.

Sport sei das einzige Vehikel, das Südafrikaner jeder Couleur zusammenbringen könne, sagt Freddie Makoki, Chef des Rugby-Clubs Zwide United, in dem sich Kolisi die ersten Sporen verdiente. "Ein guter schwarzer Präsident und ein schwarzer Springbock-Kapitän: Nur diese können unser Land noch retten." (Johannes Dieterich aus Johannesburg, 3.11.2019)