Die "Tuktuks" sind ein wichtiger Bestandteil der irakischen Protestbewegung: Mit ihnen werden die Demonstranten versorgt, aber auch Verletzte abtransportiert.

Foto: AFP / Ahmad al-Rubaye

Selten hat es einen Protestslogan gegeben, der so kryptisch klingt und zugleich so zielsicher ist: "Wir wollen ein Land", rufen die Demonstranten und Demonstrantinnen, die in einer zweiten Protestwelle auf die irakischen Straßen strömen. Begonnen haben die Kundgebungen Anfang Oktober, ausgelöst durch die Entlassung eines beliebten Generals, der sich im Kampf gegen den "Islamischen Staat" einen Ruf als unabhängiger irakischer Patriot erworben hatte. Nach einer Pause wegen der schiitischen Arbaeen-Feiertage haben die Proteste nun wieder eingesetzt.

Die meisten Bilder kommen vom Tahrir-Platz in Bagdad, betroffen ist der gesamte Irak von der Hauptstadt südwärts. In Bagdad haben Demonstranten das "türkische Restaurant" besetzt, ein seit 2003 leerstehendes 18-stöckiges Gebäude, Mahnmal eines gescheiterten Wiederaufbaus. Von dort schossen Scharfschützen auf den Tahrir-Platz, bevor es die Protestbewegung übernahm.

Das Gefühl, kein "Land" ihr Eigen nennen zu können, haben die irakischen Demonstranten, obwohl ihr System ja der äußeren Form nach eine Demokratie ist: Nach dem Sturz von Saddam Hussein durch die US-geführte Invasion im Jahr 2003 wurde 2005 zum ersten Mal und seither in regelmäßigen Abständen das Parlament gewählt – und damit die Regierung.

Wahlen ohne Wandel

Die letzten Wahlen, die allerdings von Betrugsvorwürfen überschattet waren, fanden 2018 statt; Premier Adel Abdul Mahdi ist erst seit einem Jahr im Amt und hatte keinen schlechten Ruf. Dennoch herrscht das Gefühl vor, Wahlen seien nur dazu da, die Macht innerhalb einer bestehenden Kleptokratie umzuverteilen. Sie bestätigen stets aufs Neue ein korruptes, ungerechtes System.

Wer nicht dazugehört, hat keine Chancen auf Ausbildung, Jobs und Dienstleistungen. Die Staatseinnahmen verschwinden im Schlund einer Klüngelwirtschaft von Gruppen und Parteien. In einem der größten Ölförderländer der Erde haben die Menschen oft nur ein paar Stunden Strom am Tag. Die Infrastruktur zerfällt, Projekte zu ihrer Rehabilitierung verlaufen im Sand.

Dementsprechend ist auch die Wahlbeteiligung über die Jahre gesunken, und die Demonstrierenden rufen nun – eher unbestimmt – nach einem Systemwechsel und einer neuen Verfassung. Die politische Klasse fühlt sich erst einmal nur beauftragt, ein neues Wahlrecht zu erarbeiten – eines, das nicht automatisch die schon etablierten Gruppen bevorzugt. Das wird aber schwierig genug und wird vor allem dauern.

Antiiranischer Trend

Zwei Charakteristika der irakischen Proteste überraschen und – im zweiten Fall – schockieren: erstens die Vehemenz, mit der sich die Demonstranten gegen die iranische Präsenz im Irak wenden, zweitens die Brutalität, mit der die Demonstranten bekämpft werden. Zu den mehr als 250 Toten kommen Tausende Verletzte, viele davon schwer. Dazu gibt es "verschwundene", wahrscheinlich verschleppte Demonstranten.

Die Aversion gegen die Iraner entspricht der "Wir wollen ein Land"-Forderung: Vor allem in den Schiitengebieten, in denen protestiert wird, treten die Iraner gerne als die Herren und Meister auf. Obwohl das im Umkehrschluss nicht heißt, dass die US-Botschaft – ein riesiges Areal in bester Lage in Bagdad – beliebt ist, hat der antiiranische Trend der Proteste dazu geführt, dass diese von den Iran-freundlichen Kräften und vom Iran selbst als US-gesteuert bezeichnet werden, Teil des US-Kampfes gegen den Iran.

Einer entsprechenden Aussage des iranischen Religionsführers Ali Khamenei setzte jedoch die höchste schiitische Autorität im Irak (und für viele Schiiten in der Welt), Ali Sistani, klare Worte entgegen: Keiner habe das Recht, den Irakern seinen Willen aufzuzwingen, sagte der 89-jährige Ayatollah. Von Iran-freundlichen Milizen, deren Büros von Demonstranten angegriffen wurden, kommen jedoch Drohungen: Man werde eingreifen, wenn die Zeit gekommen sei. Andererseits gibt es Videos von Milizionären, die kundtun, dass sie nicht auf ihre Landsleute schießen werden.

Unbefriedigende Rede

Der Rücktritt Abdul Mahdis schien vergangene Woche bereits besiegelt: Die Chefs der beiden stärksten Gruppen im Parlament, Muqtada al-Sadr und Hadi al-Amiri, hatten sich auf einen Misstrauensantrag geeinigt. Beide sind zwar Schiiten, jedoch aus gegensätzlichen Lagern: Sadr gilt als irakischer Nationalist, während Amiri Führer der Iran-freundlichen Kräfte ist. Dann soll Amiri aber einen Befehl aus Teheran erhalten haben, Abdul Mahdi nicht zu stürzen.

Eine Rede von Staatspräsident Barham Saleh blieb für die Demonstranten ebenfalls unbefriedigend: Er äußerte Verständnis für ihre Anliegen und versprach Reformen und Neuwahlen, aber alles im bestehenden verfassungsrechtlichen Rahmen. Dass sich die Menschen von der Aussicht auf einen langwierigen "umfassenden nationalen Dialog" beruhigen lassen, ist nicht abzusehen. (Gudrun Harrer, 4.11.2019)