Wie erklärt man dann den Aufstieg von antiliberalen, nationalistischen, rechtspopulistischen politischen Figuren wie Viktor Orbán (links), Jaroslaw Kaczynski oder Andrej Babis (rechts)?

Foto: APA/HANS PUNZ

Der 30. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer am 9. November eröffnet die Serie der Jubelfeiern. Die Mittel- und Osteuropäer erinnern sich an den Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen und des Ostblocks. Die Feiern sind berechtigt: Noch nie in der Geschichte haben die Menschen in diesem Raum so frei und so gut gelebt wie heute. Die zehn neuen EU-Mitgliedsstaaten (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn seit 2004, Bulgarien und Rumänien seit 2007) haben seit 1995 ihre reale Wirtschaftsleistung verdreifacht. Die jüngste Umfrage des PEW-Informationszentrums belegt, dass sich die große Mehrheit der Menschen – zum Beispiel 85 Prozent in Polen und Ostdeutschland, 82 Prozent in Tschechien und 72 Prozent in Ungarn – zum Mehrparteiensystem und zur Marktwirtschaft bekennt. Auch die Leistungen der Europäischen Union werden ähnlich positiv beurteilt.

Rechtspopulistische politische Figuren

Wie erklärt man dann den Aufstieg von antiliberalen, nationalistischen, rechtspopulistischen politischen Figuren wie Viktor Orbán, Jaroslaw Kaczynski oder Andrej Babis? Das ist das zentrale Thema vieler Studien über die Folgen der Wende. Rückblickend glaube ich nicht, dass nur der Druck durch die "neoliberale Globalisierung" und die Trotzreaktion der vergessenen Verlierer die entscheidenden Faktoren waren. Eher findet man die Gründe darin, dass im Gegensatz zur weitverbreiteten Rhetorik über den Triumph der liberalen Demokratie das Wendejahr 1989 eine dank durch die unkontrollierbare Dynamik der von Michail Gorbatschow eingeleiteten Reformen in der Sowjetunion aus Verhandlungen hervorgegangene Kompromisslösung war. Die Massendemonstrationen hatten zweifellos die Kompromissbereitschaft der um ihre Pfründen bangenden und deshalb reformbereiten kommunistischen Eliten mit den Dissidenten beschleunigt.

Kommunistische Wendehälse

Der Erfolg der kommunistischen Wendehälse in den Folgejahren trug dann zur Verbitterung breiter Schichten bei, die vom Umschwung nicht profitierten. Die Angst vor einer demografischen Katastrophe durch Emigration und niedrige Geburtenraten sind Hauptgründe für die wachsende Unzufriedenheit. Lettland, Bulgarien und Rumänien haben ein Fünftel bis zu einem Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung verloren. Durch den Verlust von zwei Millionen Menschen nach den Wendejahren entspricht die Bevölkerung Ostdeutschlands heute dem Niveau von 1905!

Zur Hinterlassenschaft der kommunistischen Diktatur und ihrer autoritären Vorgänger gehören der ethnisch geprägte Nationalismus und oft gewalttätige fremden- und Roma-feindliche Rassismus. Die milliardenschweren Transferleistungen der EU und die Rücküberweisungen der im Ausland Beschäftigten (über sechs Prozent der Wirtschaftsleistung in Bulgarien, Lettland und Ungarn) sind zwar lebenswichtig für diese Länder, zugleich werden sie von den völkischen Populisten an der Macht als vermeintliche Beweise für die Herabsetzung und Ausbeutung Osteuropas durch den globalen Kapitalismus ausgenützt. Die gleichzeitige Empörung gegen die "Fremdherrschaft" und die unvermeidbare Anlehnung an den Westen bilden ein explosives Gemisch. Das darf man auf der Suche nach politischer Handlungsfähigkeit in Brüssel nicht vergessen. (Paul Lendvai, 4.11.2019)