Es ist leider nur wenig bekannt, dass das ausgehende Jahr 2019 von der Uno zum Jahr der indigenen Sprachen ausgerufen worden ist. Dies erfolgte unter anderem, um Bewusstsein für indigene Sprachen zu schaffen, wofür ich hier als Sprachwissenschafter einen kleinen Beitrag leisten will.

Indigen werden Sprachen von Ethnien genannt, auf die folgende vier von der Uno mitausgearbeitete Kriterien in der einen oder anderen Weise zutreffen: 1. relativ gesehen erste Nutzung/Besiedlung eines Territoriums; 2. freiwillige Bewahrung kultureller Besonderheiten (gegenüber der Mehrheitsbevölkerung), insbesondere was Sprache, Produktionsweisen, Gesellschaftsorganisation, Institutionen, Religion und spirituelle Werte betrifft; 3. Selbstidentifikation und Anerkennung durch andere als eine eigenständige Gemeinschaft; 4. Erfahrung von Enteignung, Ausschluss, Marginalisierung, Unterdrückung oder Diskriminierung (wobei diese Bedingungen fortbestehen können oder nicht).

4.000 indigene Sprachen

Die Grenze zwischen Minderheitensprachen und indigenen Sprachen lässt sich nicht immer leicht ziehen, doch die meisten indigenen Sprachen sind Sprachen nationaler Minderheiten. Von den etwa 7.000 heute gesprochenen Sprachen auf der Welt gelten um die 4.000 als indigen. Diese Sprachen werden nach Uno-Schätzungen von etwa einer halben Milliarde Menschen verteilt über 5.000 verschiedene Ethnien in über 70 Ländern gesprochen.

Die enorme Vielfalt an indigenen Sprachen lässt sich mit ein paar eindrucksvollen Beispielen illustrieren. Die überwiegende Mehrheit der acht Millionen in Papua-Neuguinea lebenden Menschen gehört zu einer von mehr als 700 indigenen Ethnien, die 851 verschiedene Sprachen sprechen, die wiederum mehr als 60 verschiedenen Sprachfamilien angehören.

In den Amerikas leben in etwa eine Milliarde Menschen, von denen zehn Prozent mindestens eine von mehr als 1.000 indigenen Sprachen sprechen, die sich nach eher konservativen Schätzungen in 221 Familien einteilen lassen. Um wie viel reicher die Sprachenwelt Amerikas, Asiens und Afrikas vor dem gewaltsamen Eindringen des westlichen Kolonialismus gewesen sein mag, lässt sich nur erahnen.

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Zehn Prozent der auf den amerikanischen Kontinenten lebenden Menschen
sprechen eine indigene Sprache, zum Beispiel indigene Völker in Brasilien.
Foto: REUTERS/FRANCOIS LENOIR

Bedrohte Sprachen

Die meisten indigenen Sprachen sind bedroht. Als bedroht gilt eine Sprache dann, wenn die Tendenz besteht, dass sie nicht mehr als Muttersprache an folgende Generationen weitergegeben wird und damit ausstirbt. Latein zum Beispiel ist in diesem Sinne keine ausgestorbene, also tote Sprache, da es eine ungebrochene Kette von Generation von Sprechenden gibt, welche die heutigen romanischen Sprachen mit dem Latein Cäsars verbindet, zumindest mit derjenigen Variante, die er zu Hause gesprochen hat. Heute gilt etwa ein Drittel aller Sprachen auf der Welt als bedroht, und der größte Teil davon sind indigene Sprachen. Damit ist die kulturelle und sprachliche Vielfalt der Erde ebenso in Gefahr wie ihre biologische. Für die Bedrohung indigener Ethnien und ihrer Sprachen verantwortlich sind sowohl physische Faktoren wie Kriege, Genozid und Naturkatastrophen, zu denen freilich auch die Auswirkungen der Klimakrise gehören, und soziale Faktoren wie kulturelle, politische, ökonomische Marginalisierung und offene Repression.

Jeder Sprachtod bedeutet das Ende einer besonderen Perspektive auf die Welt und den Verlust des in dieser Sprache tradierten ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wissens. Hier geht es nicht um Esoterisches. Indigene Gemeinschaften haben häufig nachhaltigere und nicht auf Profit orientierte Natur- und Produktionsverhältnisse sowie – wohl nicht ganz zufällig –, darauf aufbauend, egalitär solidarische Gesellschafts- und Politikformen. Doch auch was Fakten und das Wissen um Zusammenhänge betrifft – wie das prominente Beispiel der Klassifikation und Nutzung von Pflanzen für medizinische Zwecke –, gäbe es viele Bereiche, in denen mehr Austausch mit indigenen Ethnien wünschenswert wäre.

Tuntussurqatarniksaitengqiggteuq

Ein solcher Austausch kann nur über Beschäftigung und Auseinandersetzung mit indigenen Sprachen folgen. Hier kommt nun mein Fachgebiet Sprachwissenschaft ins Spiel – und das auf mehrfache Weise. Jenseits von Exotismus sind indigene Sprachen interessante sprachwissenschaftliche Forschungsobjekte. Nicht wenige indigene Sprachen unterscheiden sich typologisch stark von den antiken und modernen Sprachen Europas, die lange im Mittelpunkt historischer und allgemeiner Sprachwissenschaft standen.

Nehmen wir als Beispiel das Zentral-Yupˈik, eine zur Inuit-Yupik-Unangan-Sprachfamilie gehörende Sprache, die in Alaska gesprochen wird. In dieser Sprache wird der Satz "Er hat noch nicht wieder gesagt, dass er Rentiere jagen will" mit einem einzigen Wort ausgedrückt: Tuntussurqatarniksaitengqiggteuq. Hier die Analyse: tuntu [Rentier] –ssur [jagen] – qatar [Zukunft] – ni [sagen] – ksaite [Negation] – ngqiggte [wieder] – uq [3. Person Singular Indikativ].

Die morphologischen Regeln, nach denen die Bausteine (Morpheme) dieses Yupˈik-Wortes zusammengesetzt sind, sind genau dieselben syntaktischen Regeln, nach denen wir den entsprechenden deutschen Satz zusammensetzen. Eine entscheidende Entdeckung der allgemeinen Sprachwissenschaft ist, dass alle menschliche Sprachen, egal wie unterschiedlich sie auf den ersten Blick anmuten mögen, über dieselben grundlegenden Regeln verfügen. Diese Prinzipien der sogenannten Universalgrammatik sind zu Recht untrennbar mit dem Namen Noam Chomsky verbunden.

Sujet aus der Uno-Initiative.
Foto: UN/IYIL

Wichtiger Austausch

Die Universalgrammatik ist ein biopsychosoziales Alleinstellungsmerkmal der Gattung Mensch, das eine philosophisch-politische Dimension hat. Denn dass bei allen Unterschieden unsere Sprachen letztlich denselben Regeln folgen (was ja auch durch die prinzipielle Übersetzbarkeit jeder Sprache in jede andere zum Ausdruck kommt), bedeutet, dass wir alle dieselbe Vernunft teilen und alle die gleichen Rechte genießen sollten. Dies sollte man sich bei Diskussionen um Sprach(en)politik vergegenwärtigen, auch und gerade dann, wenn es um Minderheiten- und indigene Sprachen und Ethnien geht.

Die Beschäftigung mit indigenen Sprachen vonseiten der Sprachwissenschaft (und natürlich Kulturanthropologie) hat daher eben nicht nur akademische Konsequenzen. Die Aufarbeitung und Aufbereitung indigener Sprachen hat zu größerem und breiterem Interesse geführt, was vielen indigenen Gemeinschaften geholfen hat, ihre Sprachen zu bewahren und weiter zu vermitteln. Genau zu diesem Behufe wurde das Jahr der indigenen Sprachen von der Uno ausgerufen. Ziel der Initiative ist unter anderem: Förderung von Verständigung, Schaffung günstiger Rahmenbedingungen zur Verbreitung von Kenntnissen und positiven Beispielen bezüglich indigener Sprachen, Integration indigener Sprachen in allgemeine gesellschaftliche Kontexte, Empowerment durch Verbesserung von Kapazitäten im Bildungsbereich.

Dazu kann man allgemein einen Beitrag leisten, indem man sich mit indigenen Sprachen und Ethnien und ihrer Geschichte auseinandersetzt, gerade auch, indem man das Unrecht reflektiert, das ihnen vonseiten der westlichen Welt beziehungsweise der Mehrheitsgesellschaften widerfahren ist und worunter sie zu weiten Teilen immer noch zu leiden haben. Bei uns in Österreich, wo es keine klassischen indigenen Sprachen, aber viele Minderheiten gibt, wäre ein Beitrag im Sinne des Jahres der indigenen Sprachen, dass man sich mit den anerkannten und nicht anerkannten Minderheitensprachen auseinandersetzt, wofür es viele Möglichkeiten gibt: Abteilung für Volksgruppenangelegenheiten im Bundeskanzleramt, Österreichisches Volksgruppenzentrum (ÖVZ), Initiative Minderheiten.

Dass jede Auseinandersetzung mit anderen Sprachen und die Aufnahme des in ihnen überlieferten Wissens positive Auswirkungen haben kann, zeigt ganz eindrucksvoll die europäische Renaissance und die auf sie aufbauende Aufklärung. Diese wären ohne Kontakt mit anderen Sprach- und Kulturwelten, zum Beispiel der arabisch-, jüdisch-, türkisch-, iranischsprachigen islamischen Zivilisation des Mittelalters, über welche auch die griechisch-lateinische Antike wiederentdeckt wurde, nicht möglich gewesen. In diesem Sinne ist zu hoffen, dass dieses Jahr der indigenen Sprachen den Beginn einer indigenen Renaissance markiert. (Hannes A. Fellner, 6.11.2019)