Foto: Heyne

Heyne hat in seinen Archiven gestöbert und eine kleine Perle aus dem Jahr 1990 wiederentdeckt. Die wurde ein bisschen abgestaubt (die Übersetzung ist zum Glück die gleiche geblieben, "überarbeitet" müssen Altbestände aufgrund der veränderten Rechtschreibung ohnehin immer werden) und kann nun eine neue Generation von Lesern mit Spaß und Spannung versorgen. Patrick Tilleys im Original von 1983 bis 1990 erschienene "Amtrak Wars"-Reihe hat vielleicht nicht das Gewicht eines sogenannten Klassikers, ist aber sehr unterhaltsam – und aufgrund des Verzichts auf Schwarz-Weiß-Malerei intelligenter als der durchschnittliche Action-Roman.

Das neue Zeitalter

Rund 1.000 Jahre sind vergangen, seit ein Atomkrieg die Erde verwüstet hat. Die Überlebenden haben sich seitdem in sehr unterschiedliche Gesellschaften aufgespalten, und zwei davon – beide in Nordamerika ansässig – lernen wir im Eröffnungsband der Reihe kennen. An der Oberfläche lebt das in jungsteinzeitlichen Stammesverbänden organisierte Prärievolk. Es sind Mutanten, was aber nicht über Sechsfingrigkeit, buntfleckige Haut und diverse knöcherne Auswüchse hinausgeht. (Plus gelegentliches Auftreten besonderer geistiger Kräfte, wie wir noch sehen werden.) Es sind eindeutig Menschen, keine Monster.

Unter der Erde hat sich indessen die namensgebende Amtrak-Föderation ausgebreitet. Aus einstigen Schutzbunkern ist mittlerweile ein hochtechnisiertes Netzwerk unterirdischer Städte geworden, das sich unter dem einstigen Texas bis in die Gebiete der Nachbarstaaten erstreckt. Zugleich ist es eine durchmilitarisierte Gesellschaft, bei deren patriotischem Pomp die ganz Bevölkerung hingebungsvoll mitmacht. Diverse Versatzstücke aus älteren Dystopien finden sich hier wieder: von drakonischen Strafen und Zwangskonformismus bis zur systematischen Auflösung der Kernfamilie und Denkverboten (die Wagner, so nennen sich die Angehörigen der Föderation, kennen beispielsweise die Wörter "Freiheit" oder "Liebe" nicht mehr).

Zur Handlungszeit schickt sich die Föderation wieder einmal an zu expandieren, was sie in Konflikt mit dem Prärievolk bringt. Dankenswerterweise lässt Tilley das aber nicht auf ein "Avatar"-artiges Szenario unmenschliche Militärmaschinerie vs. idealisierte Ureinwohner hinauslaufen. In vielem wirken die beiden Kontrahenten eher wie Spiegelbilder: Beide Gesellschaften sind martialisch und brutal in der Wahl ihrer Mittel. Sie strotzen vor Stolz auf ihre Kampfkraft, halten ihre jeweilige Lebensweise für die einzig richtige und betrachten die anderen ("Monster", "Sandgräber") als Tiere.

Hauptpersonen mit Makeln

Diese Ausgewogenheit erstreckt sich auch auf die Protagonisten – beide in jugendlichem Alter, weil man in dieser Welt keine hohe Lebenserwartung hat (selbst in der Föderation sterben mysteriöserweise die meisten in ihren 40ern). So trägt der 14-jährige Krieger Cadillac M'Call vom Prärievolk zwar einige typische Heldenzüge. Doch ist er auch stur und hitzköpfig – weitere Schattenseiten wird er in den Folgebänden zeigen. Sein Mentor Mr. Snow und die ihm versprochene Clearwater haben mitunter ihre liebe Not mit ihm.

Die eigentliche Hauptfigur ist aber der 17-jährige Kadett Steven Brickman aus der Föderation. Zielgesteuert wie eine Maschine, ist er berechnend (an einer Stelle attestiert ihm Tilley sogar Arglist) und vom Ehrgeiz angetrieben, immer der Beste zu sein. Bislang ist ihm das auch stets gelungen – womit ihn das Schicksal respektive der Autor für einen heftigen Dämpfer geradezu prädestiniert hat. Der wird kommen, wenn Steven mit seinem Himmesfalken – einem Flugflitzer in Leichtbauweise – abstürzt, dem Prärievolk in die Fänge gerät und bei ihm eine ganz andere Art zu leben kennenlernt. Damit ist der Keim für einen Loyalitätskonflikt gelegt, und in weiterer Folge wird sich die ganze Serie darum drehen, wie sich der hin- und hergerissene Steven letztendlich entscheidet.

Ein bisschen Spaß muss sein

Der mittlerweile 91-jährige Patrick Tilley, ein Brite, hat sich einen Spaß daraus gemacht, Motive aus dem Fundus der Americana herauszugreifen und in einen neuen, überspitzten Kontext zu stellen. Schon das Grundszenario zeigt unverkennbare Wildwest- respektive New-Frontier-Anklänge: hier die traditionell lebenden "Wilden", da die "Zivilisation" mit ihrem Expansionsdrang (leicht gebremst durch die Furcht vor radioaktiver Reststrahlung und die unter Wagnern verbreitete Agoraphobie). Es werden sogar Wagenzüge ausgeschickt, die sich bei Rasten zu Wagenburgen einringeln.

Besonders skurril aber sind die Namen, die die Angehörigen des Prärievolks tragen. Cadillac ist nämlich kein Sonderfall, da gäbe es auch noch Freeway, Cannonball, Motor-Head, Deep-Purple (okay, die Vorbilder für diese beiden kommen aus Großbritannien) oder Burger-King. Es sind Namen, die man sich durch Großtaten verdient, angelehnt an angebliche "Helden aus der Alten Zeit". Im Original werden sie eher generisch als names of power bezeichnet – Übersetzer Ronald M. Hahn aber hat daraus Vollgasnamen gemacht, was ich hiermit in meine Liste der Lieblingswörter aufnehme.

Wohldosierter Humor spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle in Tilleys Romanen, zum Tragen kommt er vor allem in den erfrischend unverblümten Dialogen und Gedanken der Protagonisten. Da wird etwa – klassische Situation bei der Begegnung konträrer Kulturen – Steven von Cadillac mit einem gezielten Satz der Ehrbegriff des Prärievolks unter die Nase gerieben, und Steven gibt sich äußerlich auch angemessen zurechtgestutzt. Doch was denkt er im Anschluss? Es gab keinen Zweifel – den beiden M'Call-Sprechern stand ein ganzer Sack voller Scheißhausparolen zur Verfügung. Wahrscheinlich dachten sie sich diese Sprüche aus, wenn sie in Mr. Snows Hütte saßen.

Noch ein paar Anmerkungen zum Plot

Gelegentliche Auflockerung ist aber auch notwendig, weil Tilley einen deftigen Erzählstil pflegt und vor sehr anschaulich beschriebenen Gewaltszenen keineswegs zurückschreckt: Haut, Fleisch und Muskeln wurden zerfetzt und von den Knochen gerissen; Gliedmaßen wurden abgetrennt; Körper in der Mitte geteilt. Gedärme flogen in alle Richtungen, Blut spritzte auf die Beobachtungskameras und zog einen roten Schleier über die grauenhafte Szene.

Schon das erste Gefecht zeigt, dass die Mutanten gegenüber der Föderationstechnologie keineswegs chancenlos sind. Einige, darunter auch Cadillac und Clearwater, verfügen nämlich über besondere Talente wie Telekinese. Tilley beschreibt diese Kräfte wie eine Art von Magie und bringt damit auch ein Stück Fantasy in seine Reihe ein. Weshalb es wohl niemanden überraschen wird, dass auch eine Prophezeiung aus alter Zeit im Spiel ist. Wer wissen will, ob und wie diese in Erfüllung gehen wird, muss aber noch für längere Zeit am Ball bleiben. Insgesamt sechs Teile umfasst die Reihe – der nächste der Neuausgabe erscheint im März.