Wer heute einen Intelligenzquotienten (IQ) von 100 erreicht, gilt nur als mittelmäßig begabt. Anfang des 20. Jahrhunderts aber hätte eine ähnliche Leistung für etwa 130 Punkte gereicht – was einer Hochbegabung entsprach.

Die Gründe für diese Verschiebung: Die Punktezahl, die bei solchen Tests erzielt wird, kannte lange nur die Richtung nach oben. Seit es IQ-Tests gibt, wurden die Menschen in Europa nämlich immer klüger.

Das Phänomen wird als Flynn-Effekt bezeichnet, nach dem amerikanischen Politikwissenschafter James Flynn, der es in den 1980er-Jahren entdeckt hat. Lange lag der Leistungsanstieg bei durchschnittlich 0,3 IQ-Punkten pro Jahr. Das klingt nicht nach viel, aber in nur 100 Jahren macht es 30 Punkte aus – den Unterschied zwischen einer durchschnittlichen Intelligenz und einer Hochbegabung.

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Sind schlechtere Ergebnisse bei IQ-Tests ein Ergebnis der Migration ungebildeter Erwachsener? Studien zeigen, dass diese Testergebnisse nichts mit Zuwanderung zu tun haben.
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Experten führen den Flynn-Effekt auf Verbesserungen der Ernährung und medizinischen Versorgung zurück. Und auf den Ausbau des Bildungssystems. Das Irritierende: In jüngster Zeit zeigen die Leistungskurven wieder nach unten.

Sei es in Norwegen, der Schweiz, Deutschland, den Niederlanden, Frankreich oder Österreich: Der durchschnittliche IQ der Bevölkerung sinkt wieder. Experten sprechen konsequenterweise vom Anti-Flynn-Effekt. Wie konnte es so weit kommen?

Gebildete Menschen haben meist nur wenige Kinder, weniger intelligente dagegen oft sehr viele, argumentieren Rechtspopulisten wie der umstrittene Bestellerautor Thilo Sarrazin. Da Intelligenz bis zu einem gewissen Grad erblich sei, verliere der Genpool so nach und nach an Qualität – und der durchschnittliche IQ sinke.

Forscher verweisen auf die Migrationszahlen der letzten Jahre: Ungebildete Einwanderer (mit vielen Kindern) würden den IQ in Europa nach unten nivellieren. Es wäre zu prüfen, ob eine starke Zuwanderung aus Staaten mit einem weniger gut ausgebauten Bildungssystem die IQ-Resultate im Aufnahmeland negativ beeinflusst.

Test vor Militärdienst

Wirtschaftswissenschafter um Ole Rogeberg vom Frisch Centre in Oslo näherten sich der Frage indirekt: Bis zum Jahrgang 1991 mussten junge Norweger vor dem Militärdienst einen IQ-Test absolvieren.

Die Forscher konnten daher die Testresultate von 30 aufeinanderfolgenden Jahrgängen seit den 1960er-Jahren analysieren, von insgesamt mehr als 700.000 Norwegern ohne Migrationshintergrund. Auch die Leistungen von Geschwistern verglichen sie.

Sie stellten fest, dass für den Anti-Flynn-Effekt das Leistungsgefälle innerhalb von Familien ausschlaggebend war: Gegen Ende des betrachteten Zeitraums schnitten die jüngeren Brüder im Durchschnitt deutlich schlechter ab als ihre älteren Geschwister einige Jahre zuvor.

"Das legt nahe, dass nicht Veränderungen des Genpools, sondern Umwelteinflüsse die Intelligenz beeinflusst haben", sagt Ole Rogeberg. Andernfalls hätte man keine so deutlichen Leistungsunterschiede zwischen engen Verwandten gefunden. "Unsere Forschung setzt der Vorstellung ein Ende, dass der Anti-Flynn-Effekt dadurch zustande kam, dass weniger schlaue Menschen mehr Kinder haben als intelligente Menschen", sagt Rogeberg.

Darüber hinaus sprechen die Ergebnisse dagegen, dass Zuwanderung die Intelligenz in Norwegen sinken ließ. "Wenn Migration der Grund wäre", so Rogeberg, "hätten wir die beschriebene Tendenz nicht verbreitet in norwegischen Familien festgestellt."

Kein Einfluss durch Migration

Sonderfall Norwegen? Der Psychologe Jakob Pietschnig von der Uni Wien setzte die IQ-Testergebnisse aus 50 Jahren und 21 Ländern in Beziehung zu den Einwanderungszahlen. Auch er fand keinen durch Migration bedingten Einfluss.

Und wenn weitere Migrationsströme nach Europa drängen? "Ergänzende Untersuchungen haben gezeigt, dass sich IQ-Unterschiede zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen eines Landes, sobald diese vergleichbare Bildungsmöglichkeiten haben, meist schon innerhalb einer Generation ausgleichen", so Pietschnig.

Eine Studie niederländischer Forscher zu unterschiedlichen Gruppen von Zuwanderern (aus Indonesien, der Türkei, Surinam, Marokko und anderen Ländern) ergab 2004, dass deren durchschnittliche Intelligenzleistung sich in kurzer Zeit derjenigen der Einheimischen anglich, egal ob sie bei früheren IQ-Tests stärker oder schwächer als diese abgeschnitten hatten.

Liegt der Grund für den Anti-Flynn-Effekt vielleicht ganz woanders? Früher wusste man wichtige Jahreszahlen der Weltgeschichte auswendig. Heute wird gegoogelt. Manche Experten glauben, dass Navis dumm machen: Menschen können sich riesige Wegnetze einprägen. Doch diese Fähigkeit verkümmere, wenn man zur Orientierung Navis nutze, so die Psychologin Julia Frankenstein von der Uni Darmstadt.

"Die Digitalisierung verändert unser Denken", sagt Jakob Pietschnig. Ob die Intelligenz dadurch geschwächt werde oder letztlich sogar gefördert, sei offen. Bei Videospielen, bei denen man sich in virtuellen Welten zurechtfinden muss, werde das räumliche Vorstellungsvermögen trainiert.

Verbessern in Paradedisziplin

Pietschnig vermutet einen anderen Grund für die nachlassenden Leistungen bei IQ-Tests: Gemessen werden in solchen Tests die Leistungen in so unterschiedlichen Bereichen wie Sprachgefühl, abstraktes Denken oder eben räumliches Vorstellungsvermögen – und aus den Ergebnissen wird schließlich die allgemeine Intelligenz errechnet. Der Flynn-Effekt beruhte stark auf Verbesserungen in Einzelbereichen.

Die meisten Menschen seien nur in ihrer Paradedisziplin besser geworden.Seit der Industrialisierung verlange die Arbeitswelt den Menschen immer stärkere Spezialisierungen ab, so der Forscher. Und viele Schulreformen in jüngster Zeit wirkten zusätzlich in diese Richtung, sagt Pietschnig.

"Schon Jugendliche sollen heute lernen, ihre Stärken zu erkennen und auszubauen." Das Ideal umfassender Bildung, die alle Aspekte der Intelligenz gleichermaßen fördere, rücke in den Hintergrund.

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Die Aufmerksamkeitsspanne nimmt auch wegen der Digitalisierung ab.
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Doch warum sollte dadurch der IQ jetzt plötzlich sinken? "Es ist ein bisschen wie beim Zehnkampf", sagt der Wiener Psychologe. "Wenn Sie da das Laufen intensiv trainieren, steigt in der Folge die Leistung in den entsprechenden Disziplinen. Das Diskuswerfen dagegen vernachlässigen Sie vielleicht. Da werden Sie dann ein bisschen schwächer. Aber das fällt kaum auf, und ihre Gesamtpunktezahl steigt."

Aufmerksamkeitsspanne nimmt ab

An einem bestimmten Punkt aber seien die Verbesserungen in der Paradedisziplin nur noch winzig. Dann würden die Defizite in anderen Bereichen spürbar – bis die Gesamtpunktezahl, die im Wettbewerb erreicht werde, schließlich wieder sinke, so Pietschnig.

"Die Aufmerksamkeitsspanne nimmt ab", sagt der Neuropsychologe Lutz Jäncke von der Universität Zürich. Ihn wundert das nicht. "Gerade viele junge Leute chatten gleichzeitig auf Whatsapp, schauen Youtube und hören Musik." Das fördere Konzentrationsschwierigkeiten. Jäncke befürchtet, dass sich dieses Problem künftig bei IQ-Tests verstärkt negativ auswirken wird. Dann wird die Menschheit vielleicht bald dümmer sein als vor 100 Jahren. (Till Hein, 10.11.2019)