Flynn McGarry eröffnete sein erstes Restaurant mit 15 Jahren im Wohnzimmer seiner Mutter.

Foto: Joshua Aronson, Courtesy of Gem

Achtung, liebes deutschsprachiges Publikum: Dieses Schnitzel ist kein Schnitzel, sondern besteht aus Sellerie. Mit souveränen Schnitten teilt Flynn McGarry die vor ihm liegende Knolle, bestreicht sie mit Roggenmiso und milchsauer vergorenem Kohl und paniert sie anschließend im brutzelnden Fett.

McGarry ist für das Gastrogroßevent "Chef Days" nach Berlin gereist, kocht dort vor den Augen des Fachpublikums auf. Mehrere Kameramänner halten jede seiner Bewegungen in Großaufnahme fest. Während er kocht, fachsimpelt der Rotblonde so charmant, als hätte er nie etwas anderes getan. Hat er genau genommen ja auch nicht. Von seiner selbstbehaupteten Schüchternheit ist jedenfalls keine Spur.

Spätestens als die Gemüseschnitzel mit Trüffeln und einer Sauce aus Apfelessig und getrockneter Selleriehaut auf einem Teller drapiert werden, will vermutlich jeder im Publikum sofort nach New York reisen, ins Acht-Sitzplätze-Restaurant mit dem Holzfußboden und den Mid-century-modern-Möbeln. Alkohol gibt es dort auch, die Lizenz läuft über die Schwester des Chefkochs. Der ist nämlich gerade einmal zwanzig Jahre alt.

Mozart der Kulinarik, Justin Bieber of Food, diese Namen begleiten Flynn McGarry praktisch von Anfang an. Der Anfang, das war eine Kinderzimmerküche im kalifornischen San Fernando Valley, entworfen nach dem Vorbild der Küche des Drei-Sterne-Restaurants Alinea. Ein Video aus dieser Zeit zeigt einen schmächtigen Zehnjährigen, der mit dem Finger auf einen Sous-Vide-Garer und Binchotan Grill zeigt und zwischendurch ein Matheübungsheft beiseiteräumt.

Heute kann man das Essen des Zwanzigjährigen in seinem Restaurant Gem in New York kosten. Die Alkohollizenz hält die Schwester.
Foto: Joshua Aronson, Courtesy of Gem

Lieber als an Dreisätzen arbeitete er sich an Thomas Kellers The French Laundry Cookbook ab, mit dem Ziel, der beste Koch der Welt zu werden. Rückblickend begründet McGarry das vor allem mit der Trennung seiner Eltern und dem rührenden Wunsch, seine Mutter und Schwester mit gutem Essen zu versorgen.

Mit zwölf veranstaltete er im elterlichen Haus unter dem Namen Eureka die ersten Supper Clubs, benannt nach der Straße, in der er aufgewachsen ist. Es folgten Praktika in den ambitioniertesten Küchen der Welt, dem Noma, Geranium, Maaemo, Alinea und dem Eleven Madison Park.

Mit 16 die ersten Supper Clubs in New York, 2018 dann das eigene Restaurant. Damit nicht genug, reist McGarry um die Welt, zu Veranstaltungen wie jener in Berlin.

Plaudern mit dem Wunderknaben

Nach seiner Kochperformance bleibt Zeit für ein kurzes Gespräch. Aus der Nähe wirkt er noch jünger, ein blasser, sommersprossiger Kerl mit einem rötlichen Bartflaum am Kinn. Die Haartolle sitzt etwas weniger perfekt als auf den Fotos. McGarry trägt die weltweite Jugenduniform aus weißem T-Shirt und schmal geschnittener Stoffhose, dazu Loafer.

Abgesehen davon, dass er während des Erzählens manchmal etwas auf dem Smartphone checkt, ist er sehr nett. Ja, er war schon mal Schnitzel essen in Wien, aus Kalb, nicht aus Sellerie, hat aber vergessen, wo. Nein, Kochen ist nicht das Einzige, was ihn interessiert. Für ein neues Projekt versucht er sich etwa als Interior Designer.

Foto: Joshua Aronson, Courtesy of Gem

Schwer zugesetzt haben ihm die Reaktionen auf die 2014 in der New York Times über ihn veröffentliche Titelgeschichte. Viele wollten nicht gelten lassen, dass ein Fünfzehnjähriger Chef sein kann, also Koch, eine Berufsbezeichnung, die manche vor sich hertragen wie eine Auszeichnung.

So befand denn auch der New Yorker Koch David Santos, diesen Titel müsse man sich erst durch viele Leidensjahre verdienen. "Ich selbst habe mich ja gar nicht als Chef bezeichnet", verteidigt sich der heute Zwanzigjährige. "Alles, was ich wollte, war und ist kochen." Wie sehr, beweist die 2018 erschienene Dokumentation Dining with Flynn, gedreht und produziert von McGarrys Mutter Meg, einer Drehbuchautorin.

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Wir sehen eine Gruppe Grundschüler beim aus Pizza und Limo bestehenden "Personalessen", die besprechen, wie später beim Dinner der Kartoffelschaum anzurichten sei. Einen pickligen Teenager, der peinlich findet, wenn seine Mutter filmt, wie er sich in den Finger schneidet. Der sich freut, wenn sein depressiver, alkoholkranker Vater zum Abendessen vorbeikommt. Einen jungen Erwachsenen, der nach seinem Umzug nach New York beim Warten auf die Subway ein Mandelcroissant frühstückt.

Nicht zu übersehen ist die große Rolle, die Meg McGarry im Leben ihres Sohns einnahm. Sie war es, die spätnachts Supper-Club-Rechnungen sortierte und kurz vor Eintreffen der Gäste Spinnweben aus den Ecken holte. Inzwischen kommt sie ihren Sohn nur noch gelegentlich in New York besuchen.

In McGarrys Restaurant Gem kochen und servieren gerade einmal drei Personen vierzehn Gänge für zweimal acht Gäste pro Abend.
Foto: Joshua Aronson, Courtesy of Gem

Manche sehen in Flynn das Projekt einer narzisstischen Helikoptermutter. Dabei braucht es viel Eigenantrieb, um dem Druck der Spitzengastronomie und der Medien standzuhalten, und das in einem Alter, in dem andere glauben, die nächste Chemieklausur nicht zu überleben.

Seit seinem dreizehnten Lebensjahr wurde McGarry übrigens von zu Hause aus unterrichtet, einerseits, um hundertsechzig Stunden im Monat Zeit zum Kochen zu haben, andererseits, weil er von seinen Mitschülern gemobbt wurde.

Ein Juwel in New York

Und führt heute, als Zwanzigjähriger – da kennen andere noch nicht einmal den Unterschied zwischen netto und brutto – ein Restaurant im unbarmherzigen New York. Im Gem, zu Deutsch Juwel, kochen und servieren gerade einmal drei Personen vierzehn Gänge für zweimal acht Gäste pro Abend.

Es ist eine sozusagen junge Küche, mit regional-saisonalen Produkten und starkem Gemüsefokus. Im aktuellen Menü ersetzt jenes heute präsentierte Sellerieschnitzel den Fleischhauptgang. Zu trinken gibt es Naturweine, die der Chef, zwinker-zwinker, natürlich gesetzeskonform nicht probiert, er wird ja erst diesen November volljährig.

Vom renommierten New Yorker Gastrokritiker Pete Wells gab es für das Gem zwei von vier Sternen. Die Höchstwertung war einmal McGarrys selbsterklärtes Ziel, ebenso wie die drei Sterne im Guide Michelin. Darauf angesprochen, gibt er sich heute bescheiden.

"Ein Restaurant zu besitzen ermöglicht eine interessante Art von Freiheit. Dabei habe ich gemerkt, wie viele verschiedene Interessen ich habe. Von Blumendeko über Inneneinrichtung bis hin zur Frage, wie man sich vom konventionellen Fine-Dining-Service befreien kann. Ich werde mich ziemlich sicher immer mit Essen beschäftigen, aber wer weiß – vielleicht koche ich in zehn Jahren gar nicht mehr selbst."

Bislang hat sich jeder seiner Wünsche erfüllt. Seine Selbstbeschreibung bei Instagram lautet: Former Teen Chef. I cook (Ehemaliger Teenagerkoch. Ich koche). Was für Pläne hat ein Wunderkind an der Schwelle zum permanent unter Beobachtung stehenden Erwachsenen?

Jemand, der jede Journalistenfrage innerhalb weniger Stunden selbst beantwortet, sich sonntags schweigend im eigenen Apartment einschließt und dieses Jahr bereits viermal in Kopenhagen war, weil er dort zu Ruhe kommt? Flynn McGarry lacht das schüchterne Lachen eines Zwanzigjährigen. "Schlafen wäre gut." (Eva Biringer, RONDO, 25.11.2019)