Österreich tut sich schwer, mit Bildungstraditionen zu brechen. Im Gastkommentar antwortet die Bildungsforscherin Barbara Herzog-Punzenberger auf Stefan Thomas Hopmann.

Kollege Stefan Thomas Hopmann hat es sich in seinem Kommentar der anderen "Grünes Schulklima?" ein bisschen leicht gemacht: Bildungsstatistik gegen lebensweltliche Erfahrungen, OECD gegen Lehrkräfte am Schulstandort. Es tut mir für alle damit befriedigten Leserinnen und Lesern leid, wenn ich die reale Komplexität der Bildung und der österreichischen Schullandschaft wieder in die Diskussion hereinholen muss. Natürlich sind die Erfahrungen der Lehrkräfte vor Ort eine der wesentlichsten Ressourcen für Veränderungen vor Ort. Und natürlich ist gegen Hopmanns Empfehlungen, in einen ökologischeren Schulbetrieb und die besonders belasteten Zielgruppen zu investieren, nichts zu sagen. Aber ökologischere Putzmittel gegen die überfälligen Veränderungen auf struktureller Ebene auszuspielen, halte ich für Augenauswischerei.

Für bedenklich halte ich die Diktion, dass sich die zukünftigen Koalitionäre ohne "Einflüsterer", "Eingeweihte", "Konsorten der OECD" neue Inhalte und vor allem Überschriften – das ist ja im Sinne des Framing besonders wichtig – einfallen lassen sollten. Es liest sich nicht nur als Diskreditierung der Kollegenschaft, sondern auch als Aufruf, scheinbar Unbedarfte publikumswirksame Erfindungen, an die bislang noch niemand gedacht hat, anbringen zu lassen und sich nicht an Statistiken zu orientieren, die sich nur für schlichte Gemüter eignen würden.

Ideologische Grenzen

Meiner langjährigen Erfahrung nach setzen sich die meisten Leute nicht mit Statistiken auseinander, weil sie ihnen – abgesehen von den Ranglisten, die eben für schlichte Gemüter gemacht werden – zu komplex sind. Die meisten Kritiker der OECD haben kaum einen der spannenden Berichte gelesen, wollen aber wissen, dass sie nichts davon lernen können. Ein zweifelhafter Zugang zu Kritik, würde man in der gängigen Wissenschaft sagen. Aber wozu brauche ich Evidenz, wenn ich eine Meinung habe?

Viele der Berichte sind voll mit konkreten Beispielen. Es ist auch nicht gänzlich unbekannt, warum sie denn hierzulande nicht verfolgt werden konnten, wenn sie auch aufgegriffen wurden. Beispielhaft sei nur der Sozialindex angeführt, der international über unterschiedliche Ressourcenmodelle jenen Schulstandorten mehr personelle, finanzielle und ideelle Unterstützung zukommen lässt, die eine besonders herausfordernde Ausgangssituation haben.

Die Debatte Gymnasium versus NMS erregt mitunter die Gemüter.
Foto: Regine Hendrich

Eine Maßnahme, die in vielen Städten und Ländern seit Jahren und Jahrzehnten ein normaler Bestandteil der Schulpolitik ist und geeignet ist, die Auswirkungen der unterschiedlichen Zusammensetzungen von Schülerinnen und Schülern in Schulstandorten abzufedern. Zu dieser Frage wurden in den vergangenen zehn Jahren in Österreich von unterschiedlichen Bildungswissenschaftern zahlreiche Datenanalysen erstellt, Berichte geschrieben und Veranstaltungen auch jenseits ideologischer Grenzen abgehalten.

Anachronistische Trennung

Ich hatte die Freude, bei einigen dabei zu sein, und es kam aus den unterschiedlichen "Stakeholder-Gruppen" im Wesentlichen Zustimmung. Ein Zweifel tauchte allerdings immer wieder auf: Kann man das denn in Österreich durchsetzen? Ist der Neidkomplex hierzulande, etwa im Vergleich zu den Niederlanden, nicht zu stark ausgeprägt? Die lautstarken Eltern der in der sozioökonomischen Zusammensetzung bevorzugten Standorte werden diesen Ausgleich nicht zulassen. Die Eltern der benachteiligten Standorte sind politisch ohnehin nicht relevant, ihre Stimme ist nicht zu hören – politisch also ein Nullsummenspiel, wenn nicht einfach nur negativ.

Dass man Schulstandortentwicklung und Schulstrukturentwicklung nicht gegeneinander ausspielen sollte, zeigt auch der folgende Fall einer Kleinstadt-NMS. Der Schulleiter gestaltete äußerst initiativ seinen Standort und hatte trotzdem mit jedem Jahr weniger Einschreibungen zu verzeichnen, während das benachbarte Gymnasium aus allen Nähten platzte. Er meinte, dass vor Ort natürlich eine gemeinsame Unterstufe sehr sinnvoll wäre. Obacht! Er war kein roter oder grüner, sondern Personalvertreter der Christgewerkschaft und sagte: "Die obersten Personalvertreter machen ihre Schulpolitik vorbei an unseren Bedürfnissen. Da geht es eben nur um den Erhalt der Langform des Gymnasiums. Etwas, das wir hier vor Ort wirklich nicht brauchen."

Wenn nun die 33.000 Volksschullehrkräfte und die 30.000 NMS-Lehrkräfte – zusammen mit den Sonderschullehrkräften beinahe 70.000 Lehrkräfte – etwas zu sagen hätten, dann würden sie sich wahrscheinlich gegen die anachronistische Trennung der zehnjährigen Kinder wenden. So war es auch in den meisten anderen vergleichbaren Ländern, als die Schulstrukturen demokratisiert wurden. Aber so lange sie sich der bei weitem geringeren Zahl der AHS-Lehrkräfte (22.000) unterlegen fühlen, kommt keine eigenständige Meinungsbildung zustande und zehntausende Lehrkräfte, die eine andere Meinung haben, bleiben stumm. Dies hat unter anderem mit dem gängigen Verweis zu tun, dass man nichts ändern kann, wenn es doch "unsere" Tradition verlange, neunjährige Kinder in der Volksschule mit dem ersehnten Sprung ins Gymnasium zu Höchstleistungen zu motivieren – oder sollte man besser sagen – zu drangsalieren. Die ständische Hierarchie ist eben in der österreichischen Tiefenstruktur verankert.

Hierarchie unter Lehrkräften

Die beschriebene Hierarchie der Lehrkräfte könnte sich aber mit der gleichwertigen Ausbildung der Sekundarstufenlehrkräfte ändern. Nun sind alle gleich befähigt und müssen sich mit der Situation beider Sekundarstufenschultypen auseinandersetzen. Die eigene Erfahrung könnte also auch bei den zukünftigen Lehrkräften, die zufällig an einer AHS gelandet sind, zu einem Umdenken führen. Wie gesagt, eine Normalsituation in den meisten anderen vergleichbaren Ländern, aber in den deutschsprachigen Ländern eben eine Nachzüglernummer. Zu guter Letzt gebe ich Kollegen Hopmann recht, dass die Zeit dafür wahrscheinlich in diesen Koalitionsverhandlungen noch nicht reif ist. Aber es stimmt mich optimistisch, dass es nur eine Frage der Zeit ist.

PS: Um die unvermeidlichen Hinweise auf die drohende Explosion des Privatschulwesens hintanzuhalten, muss an dieser Stelle angemerkt werden: Österreich hat schon heute einen im Vergleich zu OECD-Ländern mit gemeinsamer Schule bis zum 14. Lebensjahr oder darüber, einen großen Anteil an Privatschulen! Gegenteilige Behauptungen beruhen auf anekdotischen Einsichten und entbehren immer statistischer Grundlagen – warum nur?(Barbara Herzog-Punzenberger, 5.11.2019)