Der Dramatiker und Autor Heiner Müller war ein enger Freund der Familie Heise zu DDR-Zeiten. "Heimat ist ein Raum aus Zeit" ist ein Film, der auch seinem Denken nahesteht.

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Langsam gleitet die Kamera über ORWO-Kontaktstreifen, die den DDR-Philosophen Wolfgang Heise und Heiner Müller in einem Wohnzimmer zeigen. Aus dem Off sind nicht nur Männerstimmen zu hören, Zettel rascheln, Müller saugt an seiner Zigarre, Eiswürfel klimpern im Glas. In ihrem Gespräch geht es auch um eine Szene aus Brechts Galilei, in der dessen Tochter dem halbblinden Galilei eine Inschrift von Montaigne vorliest: "Der Mensch ist zu brüchig." Galilei erwidert: "Nicht brüchig genug."

In Thomas Heises monumentalem Essayfilm Heimat ist ein Raum aus Zeit geht es um solcherlei Brüchigkeit: um einen Schock oder das Staunen darüber, wie viel Menschen aushalten. Er handelt von einem Unverfugten der Geschichte im 20. Jahrhundert, von Lebensbedingungen in Diktaturen, von geistigen Versumpfungen, Deportationen, Menschenschlächterei – von Widersprüchen und Widerständen, die insbesondere während eines Zeitenwandels entstehen; und er handelt von Lebens- und Liebessehnsüchten.

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Heise erzählt dies mit Material aus dem Familienarchiv; mit Entwürfen für Lebensläufe, Schulaufsätzen, Tagebüchern und Briefen. Dabei umfasst der Film mehr als 100 Jahre Geschichte – eine Familiengeschichte über vier Generationen in fünf Kapiteln, von der Weimarer Republik über die NS-Zeit, die Bundesrepublik und die DDR bis zum vereinigten Deutschland.

Heises Großmutter Edith ist Jüdin, Heises Großvater Wilhelm Kommunist, irgendwann leben beide in Berlin, während bei Ediths Wiener Verwandtschaft nach dem "Anschluss" Österreichs Ende der 1930er-Jahre die Entrechtungen eskalieren und sie schließlich in Deportation münden. Aus dem Off trägt Heise ihre bestürzend berührenden Briefe vor – Zeugnisse von erstaunlicher Contenance und gemütsverdunkelter Verzweiflung.

Dabei fährt die Kamera stoisch die von den Nazis erstellten Deportationslisten ab – 24 Minuten lang. Mit der Deportation von Ediths Familie im Juli 1942 wird die Leinwand schwarz. Schon da beginnt die Stimme von Marika Rökk zu trällern, einen UFA-Schlager mit Durchhalteparolen aus dem Jahr 1943: "Schau nicht hin, schau nicht her, schau nur geradeaus – und was dann noch kommt, mach dir nichts daraus."

Stimme als Bruchstelle

Alle Texte werden von Heise selbst vorgelesen – mit ruhiger Intonation. Seine Stimme markiert eine zeitliche Differenz, ein eigendynamisches Dazwischen, einen Bruch zwischen dem, was sich aus der Vergangenheit erzählen, und dem, was sich in der Gegenwart sehen lässt. Seine körperlose Erzählerstimme schwebt über rigide komponierte Schwarz-Weiß-Bilder, über menschenleere Totalen, über zunächst beliebig anmutende Gegenwartsansichten deutscher und österreichischer Landschaften mit symbolträchtigen Leitmotiven: Geröllhaufen, Güterbahnhöfen, Gleisanlagen. Das sparsam eingesetzte Archivmaterial – von Briefen über Sepiafotografien hin zu Buntstiftzeichnungen – ist in Farbe, wohingegen Gegenwärtigesfast durchweg inkontrastreichem Schwarz-Weiß gedrehtist.

Stimme und Bilder streifen, verpassen oder kommentieren einander. Die langsamen Lateralfahrten scheinen nichts zu illustrieren, nur eine tastende Bewegung zu sein. Mit Autos beladene Güterwagons fahren von links nach rechts durchs Bild, wenn man so möchte, von Westen nach Osten. Erst viel später kommen sie leer aus entgegengesetzter Richtung zurück. Dann gibt es ortsungebundene Kamerabewegungen: Nach einer Sommerfrische in Tirol wirbt Wilhelm in höflichen Konjunktiven um Edith, dabei ziehen andere Aufnahmen an unseren Augen vorbei: Bilder von securitybewachten Après-Ski-Hütten im österreichischen Zillertal, dazu Hüpfen zu dumpfen Technobeats.

Feindliche Zeiten für Utopie

Aus Vervielfältigung von Briefen, aus ihrer Schichtung setzt sich eine kaleidoskopartige, schier unabschließbare Geschichte zusammen. Ein möglicher Schlusspunkt von vielen wäre der geradezu hellsichtige Text Die Küste der Barbaren, den Heiner Müller kurz nach den rassistischen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen in der Frankfurter Rundschau veröffentlichte.

Hier beschreibt er die Entwicklung nach der Wende als feindliche Zeiten für Utopie und Möglichkeitssinn, prophezeit einen Krieg um Schwimmwesten und Plätze in den Rettungsbooten und konstatiert, dass Debatten um Migration nicht vonökonomischen Verteilungsfragen des Kapitalismus zu trennen sind. (Friederike Horstmann, 7.11.19)