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Mit zahlreichen Veranstaltungen wird in Leipzig an die Großdemonstrationen vor 30 Jahren erinnert. Mit dem Ruf 'Wir sind das Volk' hatten am 09. Oktober 1989 rund 70.000 Menschen für Freiheit und Demokratie demonstriert.

Foto: dpa-Zentralbild/Hendrik Schmidt

Dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und dem großen Völkerfrühling in Osteuropa fällt die Bilanz im Allgemeinen enttäuschend aus. Demokratische Musterländer findet man unter den einst dem Ostblock zugehörigen Nationen kaum.

War also alles umsonst? Nein. Trotz Orbán, Zeman, Kaczinski sind die inspirierenden Tage von damals nicht vergeblich gewesen. Sie sind unauslöschlich in die Geschichte der Völker eingebrannt und bleiben als Bezugspunkte für alle demokratischen Bestrebungen und Bewegungen bestehen, für heute und für alle Zukunft.

Jede Revolution ist anders. In jedem Land hatte die Wende von 1989 ihr eigenes Gesicht und ihre eigenen Helden. In der DDR war das bestimmende Ereignis wohl weniger die von oben angeordnete Maueröffnung als die Montagsdemonstrationen in Leipzig mit ihren Sprechchören "Wir sind das Volk". Die tausenden Menschen, die sich damals von der Nikolaikirche aus auf den Weg machten, riskierten ihr Leben, denn bis zum letzten Moment war nicht sicher, ob die Spezialtruppen der Polizei nicht von der Waffe Gebrauch machen würden. Heute ist der Slogan von der rechtspopulistischen AfD übernommen worden, und viele Bürgerrechtler von damals sprechen heute verbittert von der "Annexion" der DDR durch die deutsche Bundesrepublik.

"Diese Regierung wird die Wahrheit sagen"

In Polen bleibt die weiter zurückliegende Solidarnosc-Bewegung als auslösendes Demokratiemoment in Erinnerung. Ebenso die Regierungserklärung des ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki, eines linkskatholischen Intellektuellen, die mit den Worten begann: "Diese Regierung wird die Wahrheit sagen." Ein weiter Weg zu den heutigen Machthabern, die sich in Sachen Demokratie und Menschenrechte im Clinch mit der EU befinden.

In der Tschechoslowakei erzwangen Millionen Demonstranten die Übernahme des Präsidentenamtes durch Václav Havel. Dieser wählte als sein Leitmotiv: "Wahrheit und Liebe überwinden Lüge und Hass." Ein scheinbar banaler Kalenderspruch, der freilich nicht nur ernst gemeint war, sondern auch in der praktischen Politik weitgehend umgesetzt wurde. Heute sind wiederum Hunderttausende auf der Straße, um gegen die gegenwärtige Regierung und den gegenwärtigen Präsidenten zu protestieren.

Und schließlich Ungarn. Hier ist aus dem jungen Liberalen Viktor Orbán von damals der heute autoritär regierende Ministerpräsident Viktor Orbán geworden, der als sein Ziel die illiberale Demokratie angegeben und dieses auch durchgesetzt hat.

Große Hoffnungen nicht erfüllt

Die großen Hoffnungen von 1989 haben sich nicht erfüllt, aber die osteuropäischen Staaten von heute sind trotz aller Defizite keine Diktaturen. Wer heute gegen Korruption, Misswirtschaft, Einschränkungen der Pressefreiheit, der Unabhängigkeit der Justiz oder der Wissenschaft demonstriert, riskiert nicht mehr, eingesperrt und gequält zu werden. Überall gibt es eine lebendige und aktive Zivilgesellschaft, die sich nicht den Mund verbieten lässt. Was es nicht gibt, sind schlagkräftige Oppositionsparteien, denen man die Regierungsübernahme zutraut. Die Wende von 1989 war eine Sternstunde, kein Dauerzustand. Aber ihr Ziel, die immer neu zu erkämpfende Demokratie, ist geblieben. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 6.11.2019)