Ob Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg auch am Wahlabend jubeln, ist unsicher.

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Die Umfragen scheinen deutlich: Die regierenden britischen Konservativen liegen in allen deutlich voran. Mehr als zehn Prozentpunkte beträgt der Abstand zu Labour im Mittel, und die meisten Kommentatoren sind sich einig: Das wird kaum aufzuholen sein. Es ist der frühe April 2017. Theresa May führte ihre Partei damals mit aller Zuversicht in die Neuwahl. Sechs Wochen später war sie die große Verliererin – die Tories hatten keine absolute Mehrheit mehr, beim Stimmenanteil lag Labour nur 2,4 Prozentpunkte zurück. Knapp zwei Jahre später stellte sich die Wahl als Anfang vom Ende der May'schen Regierungszeit heraus.

Nun, Ende 2019, scheinen die Umfragen abermals deutlich – und viele Labour-Anhänger fühlen sich von der Erinnerung an 2017 ermutigt. Sie verweisen auf den aktuellen Umfragestand und sehen für ihre Partei eine ähnliche Perspektive wie damals. Dass sie damit recht behalten werden, ist nicht gesagt – zu unterschiedlich sind die Voraussetzungen der beiden Wahlkämpfe. Einig sind sich die britischen Meinungsforscher aber darin, dass ein Sieg der Tories noch keineswegs ausgemacht ist – jedenfalls keiner, mit dem Boris Johnsons Wünsche nach einer breiten Regierungsmehrheit erfüllt werden könnten.

Zu den Skeptikern zählt Sir John Curtice, Großbritanniens wohl bekanntester Wahlforscher. Der Professor von der Uni Strathclyde ist so etwas wie der Christoph Hofinger der Briten: Am Wahlabend steht er dem neugierigen BBC-Publikum bei, meist liegt er mit seinen Hochrechnungen zum Wahlausgang schon früh richtig.

Erfolg für kleinere Parteien

Diesmal sieht er auf Basis der Umfragen Erfolge für die sogenannten dritten Parteien am Horizont – also für jene, die nicht den im 20. Jahrhundert dominanten Blöcken von Konservativen oder Labour angehören. Mehr als 100 Sitze könnten die Liberaldemokraten, schottische und walisische Nationalisten, Grüne und nordirische Unionisten diesmal gemeinsam holen, glaubt er.

Das würde für Johnson und die Seinen wenig Gutes verheißen. Denn, so das aktuelle Schlagwort der britischen Analysen, es steht ein "asymmetrischer Wahlkampf" bevor: Die Konservativen, die es sich mit ihrem letzten Bündnispartner, den Unionisten, zuletzt verscherzt haben, sind zum Regieren auf eine absolute Mehrheit angewiesen – sie müssen siegen, um die Wahl zu gewinnen.

Für Labour und die Liberaldemokraten ist es anders. Auch wenn Chef-Sozialdemokrat Jeremy Corbyn für die Liberalen nur schwer tragbar wäre – die Parteien sind untereinander anschlussfähig. Auch eine Duldung einer gemeinsamen Regierung durch die SNP oder die walisische Regionalpartei Plaid Cymru ist nicht undenkbar. Denn sie alle vereint die Gegnerschaft zum Brexit – oder jedenfalls zu einem nach Façon der Tories. Aus dieser Konstellation könnte sich für die Wahlen Mitte Dezember eine Ausgangslage ergeben, die viele britische Wählerinnen und Wähler so nicht gewöhnt sind – und die daher die Medien aktuell beschäftigt. "Ist taktisches Wählen denn legal?" lautet nur eine der sehr niederschwelligen Fragen, die die BBC in einem online verfügbaren Q&A-Text zum kommenden Urnengang beantwortet. Die Frage, ob man denn eine Partei wählen dürfe, die man vielleicht nur für zweite Wahl hält, nur um jene zu verhindern, die man ablehnt – sie beschäftigt aktuell viele Briten.

Strategie Nord

Und auch die Parteien beginnen über Taktik und Strategie nachzudenken, weshalb sie bereits jetzt erste zaghafte Absprachen treffen. Die proeuropäische irisch-republikanische Partei Sinn Féin – sie nimmt ihre Unterhaussitze traditionell nicht an – hat angekündigt, sich diesmal in drei Wahlkreisen nicht zu bewerben. Das soll anderen Europafreunden dabei helfen, der EU-feindlichen DUP dort den ersten Platz streitig zu machen.

Wegen dieser und ähnlicher Phänomene bräuchten die Konservativen diesmal laut Meinungsforschern rund sieben bis acht Prozentpunkte Abstand auf Labour. Nur dann könnten sie von der Arbeiterpartei zumindest jene Sitze dazugewinnen, die sie an die Liberaldemokraten und die SNP zu verlieren fürchten – und an die Brexit-Partei von Nigel Farage, die in über 600 Wahlkreisen gegen die Tories antreten will.

Nicht zuletzt deshalb will sich die Partei besonders um Sitze in heruntergewirtschafteten Wahlkreisen Nordenglands bemühen, die bisher Labour gewählt haben, aber auch für den Brexit sind. Um ihre Gunst zu gewinnen, setzt Johnson auf Themen wie Sicherheit (er will rund 20.000 zuletzt abgebaute Polizistinnen und Polizisten wiedereinstellen) und Geld für das Gesundheitssystem NHS.

Was er sich nicht leisten kann, sind viele Fehler. Einen ersten beging sein Parteikollege Jacob Rees-Mogg am Wochenende. Er sagte bei einem Interview zum Jahrestag der Brandkatastrophe im Wohnturm von Grenfell, den damals getöteten Bewohnern habe es an "Hausverstand gefehlt", weil sie das brennende Gebäude nicht schnell genug verlassen hatten. Am Dienstag entschuldigte er sich. (Manuel Escher, 7.11.2019)