Einseitige Unabhängigkeitsbestrebungen sind ein direkter Affront gegenüber den demokratischen Prinzipien, so der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez im Gastkommentar.

Europa ist vor allem Freiheit, Frieden und Fortschritt. Diese Werte gilt es voranzutreiben und Europa zu einem führenden Modell für Integration und soziale Gerechtigkeit zu machen, in dem seine Bürger Schutz finden. Das Europa, das wir anstreben, brauchen und aufbauen, gründet auf demokratischer Stabilität in den Mitgliedsstaaten und kann den einseitigen Verstoß gegen seine Integrität nicht akzeptieren. Das Europa, das wir bewundern, wurde auf dem Prinzip überlappender Identität und Gleichheit für alle Bürger sowie auf der Ablehnung nationalistischer Ideologien und Extremismus aufgebaut.

Die Herausforderung durch den Separatismus in Katalonien ist auch eine Herausforderung für Europa und die Europäer, weil er sich gegen Spaniens verfassungsrechtlichen Rahmen richtet und außerhalb dieses Rahmens ersonnen wurde. Die Wahrung der eingangs erwähnten Werte im heutigen Katalonien bedeutet, jenes offene und demokratische Europa zu schützen, für das wir stehen.

Katalonien steht heute – nach dem von den Separatistenführern im Herbst 2017 initiierten einseitigen Verstoß gegen die spanische Verfassungsordnung – für eine tiefe Krise. Die katalanische Führung verabschiedete ein verfassungswidriges Gesetz über die "Trennung" vom spanischen Staat, hielt ein illegales Referendum ab und rief eine sogenannte Katalanische Republik aus.

Einseitige Abspaltung

Kein Staat würde jemals die einseitige Abspaltung eines Gebiets erlauben, das Teil seiner verfassungsmäßigen Ordnung ist. Und kein Demokrat sollte den von den Separatistenführern eingeschlagenen Weg unterstützen, die bei den Regionalwahlen weniger als 48 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielten. Ihre betrügerische Unabhängigkeitskampagne entfachte den Zorn der Menschen und förderte ein tiefes Gefühl der Ungerechtigkeit und Konfrontation gegenüber dem Rest Spaniens. Wo waren die Stimmen und das Votum der Mehrheit der Katalanen, die sich gegen die Unabhängigkeit aussprachen? Wo war die Stimme der Spanier, die zu fassungslosen Zeugen eines direkten Bruchs ihrer verfassungsmäßigen Garantien wurden?

Der Präsident der katalanischen Regionalregierung, separatistische lokale Verwaltungen und Regierungen sowie Verbände, die die Unabhängigkeit unterstützen, können ihre Meinung nach Belieben äußern, sofern sie keine kriminellen Handlungen befürworten oder dazu aufrufen. Vor dem Gesetz sind alle Spanier gleich. Verfassung und Demokratie sind untrennbare Realitäten. In Spanien ist die Justiz vollkommen unabhängig. Die Regierung respektiert und befolgt alle gerichtlichen Entscheidungen. Das gilt auch für das Urteil des Obersten Gerichtshofs gegen neun Separatistenführer. Die Reaktionen darauf fielen äußerst unterschiedlich aus: Während man mancherorts der Ansicht war, Haftstrafen zwischen neun und 13 Jahren seien zu milde, organisierten andere Demonstrationen gegen das Urteil. Und obwohl einige dieser Proteste friedlich verliefen, versanken andere in extremer Gewalt.

Freiheit für politische Gefangene fordern maskierte Demonstranten am Guy-Fawkes-Day in Barcelona. Der Konflikt mit den Separatisten überschattet auch die spanische Parlamentswahl am kommenden Sonntag.
Foto: APA / AFP / Pau Barrena

Spaltung der Gesellschaft

Das Recht auf Protest und Streik ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie, und jenen katalanischen Bürgern, die dieses Recht friedlich ausübten, gilt uneingeschränkter Respekt. Doch etwas ganz anderes sind die organisierten und vorsätzlichen Gewaltakte, die in den letzten Wochen in ganz Katalonien stattfanden. Sie spiegeln in keiner Weise den Geist der Toleranz und der Offenheit der Region wider.

Die illegalen Bemühungen zur Herbeiführung der Unabhängigkeit folgten einem Fahrplan, der in Europa sattsam bekannt ist. Er führt durch ein Netz von Lügen, gewoben aus Fake-News und viralen Nachrichten und dient der Mobilisierung von Rechtsextremisten und Feinden der europäischen Integration. Genau diesen Weg schlägt man auch anderswo ein und nutzt die Rhetorik der Reaktion aus, um mit Polarisierung und Konfrontation die Spaltung der Gesellschaft zu fördern.

Instrumentalisierte Gewalt

Vor kurzem erklärten die Anführer dieser Bewegung, wie etwa der Präsident der wichtigsten proseparatistischen Vereinigung, dass Gewalt notwendig sein kann, um einem Anliegen zu größerer Aufmerksamkeit zu verhelfen. Wenn wir eine Lehre aus der schmerzhaften und blutigen Geschichte Europas gezogen haben, dann besteht sie darin, dass keine politische Ambition jemals als Rechtfertigung für die Anwendung von Gewalt dienen darf, geschweige denn für die Normalisierung der Gewalt als politisches Instrument.

Es ist ein absurdes Paradoxon, einen Präsidenten der Generalitat zu erleben, wie er die Gewalt verharmlost und gleichzeitig jene Polizeikräfte anprangert, die in seinem Auftrag ihrer Pflicht nachkommen. Das ist auch ein schwerwiegender Fehler. Ich fordere ihn auf, die Gewalt klar und deutlich zu verurteilen und mit jenen Menschen und nichtseparatistischen Parteien in Katalonien, die die Unabhängigkeit nicht wollen, in einen Dialog einzutreten. Er muss beginnen, als Präsident aller Katalanen zu agieren und nicht nur derjenigen, die seine politischen Ansichten teilen.

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Prospanische Demonstration in Barcelona: Auch wir sind Katalanen, steht auf dem Plakat.
Foto: Reuters / Sergio Perez

Neues Kapitel

Ich werde es nicht zulassen, dass es zu einem weiteren, von falschen Narrativen geschürten und von Lügen durchdrungenen extremen Ausbruch des Nationalismus kommt, der den Erfolg der spanischen Demokratie untergräbt. In der Debatte um die Zukunft Kataloniens stehen nur die Heilung und das Zusammenleben der Menschen und der Gesellschaft in Katalonien auf der Tagesordnung, nicht die Unabhängigkeit der Region. Das ist unsere wichtigste Herausforderung: Wir müssen gewährleisten, dass allseits verstanden und akzeptiert wird, dass einseitige Unabhängigkeitsbestrebungen einen direkten Affront gegenüber grundlegenden demokratischen Prinzipien darstellen.

Zurückhaltung und Mäßigung sind derzeit das Gebot der Stunde. Wir werden mit aller Entschlossenheit handeln, um das friedliche Zusammenleben zu verteidigen, aber auch mit der Intelligenz, die uns erkennen lässt, dass wir die Gelegenheit haben, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Ich habe mich dem Dialog nie verweigert, sofern beide Parteien bereit sind, sich innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens und des Gesetzes zu bewegen.

Offene Wunden

Es bestehen verschiedene Bereiche des Dialogs, die es zu erkunden gilt, wenn die separatistischen Führer ihren einseitigen Weg aufgeben. Wir können ohne Drohungen oder Herabsetzung miteinander sprechen und einander zuhören. Mir ist bewusst, dass es offene Wunden sowie Schmerz und Frustration gibt. Trotzdem besteht die Möglichkeit, zu hoffen, dass wir erkennen, was wir gemeinsam erreicht haben, und darüber nachzudenken, was wir gemeinsam tun können, um das Wohl aller unserer Bürger zu verbessern. Um das zu erreichen, müssen die Separatistenführer jedoch auf den Boden der Verfassung zurückkehren und den Rechtsstaat respektieren.

Meine Regierung hat Spanien an der Spitze des Projekts der europäischen Integration sowie an vorderster Front im Kampf gegen unsere größten globalen Herausforderungen positioniert. Wir setzen uns für die Stärkung und Ausweitung von Rechten und Freiheiten ein und engagieren uns im Kampf gegen die Ungleichheit. Diese Ziele gehen über eine nationalistische Vision hinaus, und wir brauchen Katalonien und auch die katalanische Gesellschaft, um sie zu erreichen. (Pedro Sánchez, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 7.11.2019)