Susanne Gregor, geb. 1981 in Zilina, zog 1990 nach Oberösterreich, sie lebt seit 2005 in Wien.

Foto: Laura Gerlach

Das Ende des realen Sozialismus zeichnete sich lange ab, kam aber dann doch vollkommen überraschend. Noch im Sommer 1989 war es weitgehend unvorstellbar, dass schon wenige Monate später die kommunistischen Regimes in Osteuropa verschwunden sein würden.

Und wenn schon die Erwachsenen Mühe hatten, mit den Ereignissen dieses Jahres mitzukommen, wie musste das erst für ein vierzehnjähriges Mädchen in einem tschechoslowakischen Provinznest sein?

Susanne Gregors Roman Das letzte rote Jahr lässt ebendiese Perspektive auf die Weltgeschichte lebendig werden. Die Erzählerin Misa ist zu Beginn noch ein Kind, am Ende hat sie ein paar wichtige Schritte zum Erwachsenwerden gemacht.

Die Welt aber eilt in Riesenschritten voran, während Misa auf einem Ferienlager zum ersten Mal eine Zigarette raucht und dann Radek küsst, einen Jungen, der aus Prag in ihre Welt gekommen ist. Radek ist ein Scheidungskind aus einer Familie, die man wohl als intellektuell bezeichnen könnte, bloß hat Misa von so etwas noch keinen Begriff. Misa war ja noch nicht einmal in Prag.

Über die Grenze

Die Kleinstadt Zilina, den Schauplatz ihres Romans, kennt Susanne Gregor bestens aus eigener Anschauung. Sie wurde 1981 dort geboren, 1990 zog sie mit ihrer Familie nach Oberösterreich, über die Grenze, die so lange unüberwindlich geschienen hatte. Im Sommer 1989 war Susanne Gregor also fünf Jahre jünger als Misa, ihre Protagonistin.

Ob der Roman autobiografisch ist, und in welchem Maß, ist aber nicht weiter von Belang, denn es kann ja gerade zu dem entscheidenden Faktor einer Biografie werden, dass jemand lernt, sich mithilfe der Literatur selbst zu verstehen, sich also ein größeres Leben zu erschließen als das individuelle. Bei Romanen spricht man dann gern von Welthaltigkeit, und in diesem Fall ist die Welt eben Zilina, und dort vor allem ein Wohnhaus, in dem drei Mädchen leben.

Zu Beginn ist Misa noch ganz in dem Verbund mit ihren Freundinnen und der Familien aufgehoben, die Tür an Tür wohnen, getrennt nur durch ein paar Schritte im Treppenhaus. Rita, Slavka und Misa unterscheiden sich aber auch durch markante Details ihrer familiären Verhältnisse, und in diesen Details zeigen sich die Bedingungen des Lebens in einem totalitären System:

Der eine Vater bekommt von einem Parteifunktionär eine Waschmaschine geschenkt (das neue Prestigegerät der Firma Tatramat, das sich dann aber als unzuverlässig erweist), der andere Vater reist viel in den Westen und kauft manchmal in Wien (am Mexikoplatz, bei diesem Detail verschwimmen für Zeitzeugen gleich ein bisschen die Epochen) irgendwelche Sachen, die in der Tschechoslowakei natürlich nicht zu kriegen sind, und der dritte Vater ist schon längst im Westen.

Die größten Eroberungen

Die drei Mädchen und die drei Familien stehen also auch für Optionen, wie man damals mit den Beschränkungen und den bevormundenden Privilegierungen des Systems umgehen konnte. Im Sommer 1989 drängt sich die Frage nach einer denkbaren Ausreise immer stärker in den Vordergrund. Für Misa aber öffnen sich andere Grenzen als die zwischen Ungarn und Österreich.

Sie entdeckt die Literatur, in Christa Wolfs Roman Der geteilte Himmel findet sie einen Schlüssel zu nahezu allem: zur Liebe, zur geteilten Welt, zur Freiheit, zur Imagination und auch zu Radek. Gleichzeitig vermerkt Susanne Gregor beiläufig die Öffnungen, die ihrer Generation widerfuhren – wie in allen Fällen ist auch diese nicht zuletzt eine Mediengeneration.

Die ersten Satellitenschüsseln tauchen auf, auch in der CSSR schauen die Jugendlichen nun MTV, und ein Foto, auf dem Madonna sich als Boy-Toy inszenierte, wird zu einem diskreten Leitmotiv für die vielfältigen popkulturellen Aneignungen, aus denen eine Jugend in der "freien" Welt besteht.

Die größte dieser Eroberungen bleibt aber die Literatur. Susanne Gregor erzählt in einer klaren, niemals gekünstelten Sprache von dem Glück und der Last, in einer Situation, in der die Erwachsenen wegweisende Entscheidungen treffen mussten, gerade noch und gerade nicht mehr Kind zu sein und dabei die Möglichkeiten, davon einmal erzählen zu können, schon zu ahnen. (Bert Rebhandl, 9.11.2019)