Helden bis zur Wende '89: Erich Honecker und Nicolae Ceausescu.

Foto: Imago / Werner Schulze

Wüsste man nicht, dass Nadine Schneider 1990 in Nürnberg geboren wurde, man wäre überzeugt, man habe es mit einer rumäniendeutschen Autorin zu tun, die in diesem Roman Selbsterlebtes verarbeitet hat – so authentisch und gekonnt erzählt ist diese Geschichte.

Immerhin gibt es den familiären Nahebezug: Schneider ist die Tochter deutscher Spätaussiedler aus dem Banat, und wovon sie erzählt, baut auf dem Kolorit der Erinnerungen ihrer Eltern auf. Die Geschichte, die sie in diesen Rahmen stellt, ist aber ihre eigene literarische Schöpfung, und die ist mehr als gelungen.

Gehen oder bleiben?

Die Autorin konstruiert eine kleine Dreiecksgeschichte in einem rumänischen Dorf im letzten Sommer vor der Wende. Bald wird das Land, bald wir Europa nachhaltig verändert sein, aber das ahnt noch niemand, weder die Ich-Erzählerin Anna noch Hans noch Misch.

Alle drei gehören der jungen Generation an, die im Land keine Perspektiven mehr sieht und für die sich in diesem Sommer endgültig die Frage stellt: Gehen oder bleiben? Die Grenze zu Jugoslawien ist nur drei Kilometer entfernt, man müsste nur durch die Maisfelder laufen ...

Der Romantitel signalisiert, wie kurz die Distanz ist, um in die Freiheit, in ein anderes Leben zu gelangen, und wie viel Kraft es dennoch braucht, sie zu überwinden. Irgendwann haben zwei von ihnen es verabsäumt, nur Misch ist über die Grenze gegangen. Anna hat sich nicht entscheiden können, mit wem sie gehen und mit wem sie bleiben will, hin- und hergerissen zwischen ihren Vorstellungen und den realen Verhältnissen.

Unauffällig, manchmal ganz still

Dass es dabei auch um Vertrauen und befürchteten Verrat geht, ist naheliegend. Über Hans heißt es plötzlich, er könnte ein Spitzel sein, und dann kommen Briefe aus Deutschland, von Misch, aber sie sind an Hans, nicht an Anna adressiert.

Am Ende wird die Frage "Gehen oder bleiben?" ganz von selbst entschieden: "Als wir die Ceausescus im Fernsehen sterben sahen, ging meine Mutter aus dem Zimmer." Davor eskaliert noch die Lage, eine Demo in der Stadt, zu der Anna eigentlich mit Hans hätte gehen wollen, es sind die letzten Gewaltaktionen des Regimes, am Rande der Erzählung, so wie vieles hier nur am Rand passiert, unauffällig, manchmal ganz still.

Dann erhält die nüchterne Sprache einen poetischen Klang: "Aber davon, wie das Ende ist, ahnt man nichts. Man ahnt nicht, dass kein Frühling mehr kommt, und nichts von einem letzten Sommer. (...) Ich schaute mir die Kirche an, den kleinen Laden, den leeren Biergarten und den Dorfplatz, und überall stand eine Erinnerung wie ein Gespenst."

Ein unsentimentaler Ton

Der Einsatz der sprachlichen Mittel ist das Beeindruckende an diesem Text: ein unsentimentaler Ton, in den gerade so viel verhaltenes Gefühl gelegt wird, dass die erzählerische Distanz nie aufbricht. Das ist umso erstaunlicher, als von der jungen Autorengeneration kaum noch ein realistischer Erzählton mit überzeugenden Bildern zu erwarten ist.

Die in Berlin lebende Nadine Schneider versteht es, mit Nuancen umzugehen, und bei der Lektüre vergisst man, dass es sich um ein Debüt handelt – so dicht und klar und souverän ist diese Prosa. (Gerhard Zeillinger, 9.11.2019)