Wann spürten wir die ersten Risse im System? Spürten sie, ohne das nahende Ende auch nur zu ahnen?" War es bei Freya Klier 1988, als sie der DDR verwiesen wurde? Oder war es 1986, als sie auf Speisekarten in ostdeutschen Restaurants Elchfleisch entdeckte, weil nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl Schweden den Verzehr von verstrahlten Elchsteaks verboten und die DDR dieses Fleisch fürs eigene Volk zum Spottpreis aufgekauft hatte?

In dem von Klier edierten Sammelband Und wo warst du? erinnern sich 23 Frauen und Männer aus drei Generationen ans Risse-Deutschland 1989/90.

Reden und aufschreiben

Was macht ein Reporter, um ein Land zu beschreiben? Herumfahren. Mit Leuten reden und alles aufschreiben. Christoph Amend, 1974 geboren und Chefredakteur des Zeit-Magazins, tat dies. Er redete mit Prominenten, Halb- und Gar-nicht-Prominenten, mit dem deutschen Gesundheitsminister Jens Spahn und Herbert Grönemeyer, mit der Popdiseuse Lena Meyer-Landrut und dem Sohn des Quantenphysikers Werner Heisenberg. Mit einem Designer und einem TV-Schauspieler. Auch mit Mutter und Vater.

Christoph Amend, "Wie geht's dir, Deutschland? Was aus dem Land geworden ist, in dem ich aufgewachsen bin". 22,70 Euro / 224 Seiten. Rowohlt, 2019
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Das Ganze fügt sich allerdings nie zu einem Wie-geht's-dir-Deutschland-Mosaik, was mutmaßlich am Ende das Ziel war.

Die Gespräche erweisen sich als oberflächlich-anekdotisch ins seichte Nirgendwo mäandernd. Spätestens nach dem ersten Drittel denkt man, Amend hat extra ein Buch in "Einfacher Sprache" schreiben wollen. Hat er es denn geschrieben? Oder nebenbei diktiert?

Denn sein Text ist mit umgangssprachlichen Ausdrücken gespickt ("voll mitbekommen") und starrt vor stupender Magazin-Dümmlichkeit. Ein Beispiel: der "Stil" von Fräulein Meyer-Landrut? Amend: "sich nicht stylen lassen in einer immer durchgestylteren Welt". Dass man sich für Interviews nicht vorbereiten muss, demonstriert er auch.

Dass Werner Heisenberg im Rahmen seiner hochkomplexen Quantentheorie 1927 die nach ihm benannte Unschärferelation postulierte, legt für ihn instinktiv die Folgerung nahe, einige Jahre später sei der 1932 (mit 31!) mit dem Nobelpreis geehrte Wissenschafter dann auch politisch unscharf geworden.

Wieso zur Vorbereitung auch wissenschaftshistorische Bücher lesen? Information? Stört. Was nicht passt, wird Facebook-passend gemacht. Zudem flicht er penetrant Ich-Splitter als Füllsel ein. Dies ist Journalismus auf Twitter-Niveau, stilistisch wie gedanklich. Ein Rätsel, wie es dieser Text am Verlagslektorat vorbei zum Druck schaffte.

Fast ganz bei sich

Was macht ein Soziologe, wenn er in einem ostdeutschen Plattenbauquartier aufwuchs? Er nutzt seinen subjektiv marmorierten Blick, um ein objektiv spannendes Buch zu schreiben. Steffen Mau, 51 Jahre alt und Professor an der Berliner Humboldt-Universität, ist in Rostock aufgewachsen, in der Plattenbausiedlung Lütten Klein.

Steffen Mau, "Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft". 22,70 Euro / 288 Seiten. Suhrkamp, 2019
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Sein Band ist "eine nüchterne Bestandsaufnahme", so Mau, "die uns helfen soll zu verstehen, dass wir es nicht mit Übergangsphänomenen oder damit zu tun haben, dass der Osten einfach nur anders 'tickt'". Er beugt sich über die modernisierungstheoretischen Deutungen des Übergangs nach 1989/90. Die "Freiheitsgewinne" wurden durch "Deklassierungs- und Entmündigungserfahrungen" austariert.

Ganz neu ist das nicht. Doch in seiner Klarheit ist Maus Analyse von Deutschland 1990 ff. erhellend. Er setzt schon in den späten 1970er-Jahren ein, in der "proletarischen Kleinbürgergesellschaft" DDR mit Disziplinierungspraktiken und Rückzug ins Privatglück.

Ob aber seine Einschätzung, der realsozialistische Biedermann-Sozialismus sei nicht totalitär gewesen, sondern nur eine "Organisationsgesellschaft", in der Kontrolle durch erzwungene Einbindung erfolgte, nicht doch arg neutralisierend ist?

Ergebnis der Auflösung der DDR und der Vereinigung mit Westdeutschland im Geschwindschritt: das "Gefühl des Überrollt-Werdens". Und die schockierende Erfahrung von Massenarbeitslosigkeit und Deindustrialisierung ganzer Städte und Regionen. Psychosozial bedeutete dies Abstieg, Neuorientierung, Überforderung durch einen "fortwährenden Überlebenskampf".

Die, die konnten, zogen der Arbeit hinterher, in den Westen. Viele, die blieben, fühlten sich entwertet, als Bürger nicht zweiter, sondern der Holzklasse. Sie haben sich mental verschanzt, versuchen, durch Abwehr und Abwertung, in erster Linie von Ausländern und Asylwerbern, gefühlte Minderwertigkeit zu kompensieren. Mau nennt dies, als er im Finale auf "Hausbesuch" in den Plattenbau seiner Kindheit zurückkehrt, tiefstapelnd "Verwilderung des sozialen Konflikts".

Auf Daten und rund drei Dutzend Interviews stützt sich sein instruktives Feldexperiment. Mau schaut aber auch über den Mikrokosmos Lütten Klein hinaus. Und seziert bis heute weitergereichte Klischees der DDR, die des gesellschaftlichen Aufstiegs für alle etwa.

Mau mit nachhallender Sachlichkeit: "Ende der achtziger Jahre war die DDR eine mobilitätsblockierte Gesellschaft, in der nicht nur viele Arbeiterkinder erfahren mussten, dass das Aufstiegsversprechen uneingelöst blieb; auch viele Sprösslinge aus Akademikerhaushalten erkannten, dass sie im Flaschenhals zum Hochschulzugang stecken blieben. Die einst kräftigen Mobilitätsströme erlahmten zusehends, die in höhere Positionen aufgestiegene Gründergeneration lag wie eine Bleiplatte über denen, die nachfolgen sollten."

Hornhaut in Marzahn

Was macht eine Schriftstellerin, Mitte 40, deren Verlag fallierte und deren jüngste Novelle von zwanzig Verlage abgelehnt wurde? Wovon leben, wenn überall Krise ist, weil auch noch der Ehemann, ein Schriftsteller, an Krebs erkrankt ist?

Katja Oskamp, in Leipzig geboren, in Berlin-Marzahn aufgewachsen, Autorin von drei Romanen, entschied sich für: Umschulung. Auf etwas ganz unten. Zumindest anatomisch gesehen. Sie wurde Fußpflegerin. Statt Rhythmus, Melos, Dialog jetzt Nagelwall, Hühnerauge, Hornhaut. In einem Ostberliner Fußpflegestudio. Hausbesuche gibt es auch in Marzahn, dem Plattenbauquartier.

Katja Oskamp, "Marzahn, mon amour". 16,50 Euro / 144 Seiten. Hanser Berlin, 2019
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Eine Batterie an Typen tritt auf und ab, die einen liebevoll, eine 85-jährige Dame, die jedes Mal mit Verve davon erzählt, wie sie ihren Wochenendbraten in Scheiben schneidet ("mit de Brotschneidemaschine mach ick dit"), andere gepeinigt von sozialer Isolation und Hoffnungslosigkeit, wieder andere penetrant unsympathisch wie ein Ex-DDR-Kader vor 1989, dessen Don-Juan-Bestrebungen damit endeten, dass ihn die Ehefrau hinauswarf, nun haust er in einer kleinen Einzimmerwohnung und versucht, seine Fußpflegerin, Oskamp, dazu zu bringen, doch mehr als nur seine Füße zu verwöhnen.

Das ist komisch, auch traurig, durchgehend melancholisch. Und im Wortsinn berührend. Denn Fußpflege heißt ja, berührt zu werden. Was vor allem vielen Älteren und Alten ein immer rareres Gut ist. Vor 20 Jahren schrieb die Amerikanerin Barbara Ehrenreich über "Arbeit poor". 2018 erschien auf Deutsch William Vollmanns Arme Leute. Oskamps Marzahn, mon amour ist deren nicht ganz so bitteres Pendant.

Systemimmanente Herabsetzung

Was tun nach so viel binnendeutscher politischer Makrosoziologie und podologischer Mikrosoziologie? Über den Tellerrand schauen. Das macht Philipp Ther, Ordinarius für Osteuropäische Geschichte in Wien.

Seine fünf Aufsätze plus Nachwort bestätigen, dass er derzeit einer der luzidesten Beobachter der Transformationsprozesse der letzten dreißig Jahre ist. Und einer der wenigen, die glänzend darüber zu schreiben verstehen.

Philipp Ther, "Das andere Ende der Geschichte. Über die Große Transformation". 16,50 Euro / 208 Seiten. Suhrkamp, 2019
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Ther schaut auf die USA, Deutschland, Italien, Russland und die Türkei und streift Polen, die Slowakei und Ungarn. Das größte Lockmittel für internationale Investoren im postkommunistischen Mittel- und Osteuropa war, so Ther, eine Hinterlassenschaft des Staatssozialismus – das relativ hohe Bildungsniveau und gut qualifizierte Fachkräfte.

Plus niedrige Löhne. Im Westen vollzog sich währenddessen anderes: "Aktivierung durch Armut". Das präpariert Ther als Grundprinzip des Neoliberalismus des letzten Vierteljahrhunderts heraus – eine systemimmanente Herabsetzung.

Wie kam es, dass der Traum vom liberalen Europa inzwischen krass illiberale Regierungen an die Macht katapultierte? Ther greift auf Konzepte des Wiener Wirtschafts- und Sozialwissenschafters Karl Polanyi zurück.

Dessen Hypothesen zufolge gibt es eine Art ausbalancierter Pendelbewegung zwischen freiem Markt und einem zu befriedigenden sozialen Schutzbedürfnis. Ohne solche Balance würden Übertreibungen und extreme Ausschläge bis zu Aufstand und Kollaps drohen.

Deutlich wird: Offene Gesellschaften brauchen in der Globalisierung ein starkes Sozialsystem. Ansonsten steigt die Binnenrebellion, da dann das Schutzbedürfnis des Einzelnen inklusive Ressentiments gegen alles Andere, sprich: Fremde, massiv überhandnimmt. Veränderung braucht Gemeinwohl. Ansonsten ist die liberale Demokratie reif für die Große Rolle rückwärts ins Autoritäre. (Alexander Kluy, 9.11.2019)


Weitere Bücher zu Deutschland und zur Wende:

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Kathrin Aehnlich, "Wie Frau Kruse die DDR erfand" (Kunstmann)

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B. Lange, S. Lange, "David gegen Goliath. Erinnerungen an die Friedliche Revolution" (Aufbau)

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Egon Bahr, "Was nun? Ein Weg zur deutschen Einheit" (Suhrkamp)

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Patrick Bauer, "Der Traum ist aus. Aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird" (Rowohlt)

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Jana Simon, "Unter Druck. Wie Deutschland sich verändert" (S. Fischer)

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A. Hilbrenner, C. Jahnz, "Am 9. November. Innenansichten eines Jahrhunderts" (Kiwi)

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L. Vogelsang, J. Krol, "Was wollen die denn hier? Deutsche Grenzerfahrungen" (Rowohlt)

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Ilko-Sascha Kowalczuk: "Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde" (C.H. Beck)