Auf kaum mehr als drei Quadratmetern drängelten sich zuletzt bis zu eine Million Ameisen am Boden eines Lüftungsschachts.
Foto: Wojciech Stephan

Kannibalen im Atombunker – was wie das Szenario einer trashigen Science-Fiction-Geschichte klingt, war jahrelang Alltag im polnischen Templewo. Dort hatten Forscher in einer aufgelassenen Bunkeranlage für Atomwaffen eine Kolonie von Kahlrückigen Waldameisen (Formica polyctena) entdeckt, die sie durch ihren Bericht im Jahr 2016 kurzfristig zur prominentesten Ameisenkolonie der Welt machten.

Fast der ganz normale Ameisenalltag

Genauer gesagt ging es dabei um einen ungeplanten Ableger dieser Kolonie: Durch eine undichte Abdeckung fielen nämlich immer wieder Ameisen auf den Boden eines Lüftungsschachts, wo sie dann gefangen waren. Noch erstaunlicher als das Faktum, dass die Tiere in ihrem Gefängnis recht lange überlebten, war der Umstand, dass sie dort mit ihren Alltagsgeschäften weitermachten, als wäre nichts geschehen.

Aus dem bisschen Erde und sonstigen Material, das in den Schacht rieselte, versuchten sie die bestmögliche Entsprechung eines herkömmlichen Ameisenhügels zu bauen. Und auch ansonsten hielten sie die üblichen Kolonieaktivitäten aufrecht. Minus Brutgeschäft allerdings, da sie weder Königinnen noch Männchen zur Verfügung hatten.

Streng genommen war es also nur eine Pseudokolonie, die ihren "Nachwuchs" ausschließlich im freien Fall erhielt. Das allerdings in mehr als nur ausreichendem Ausmaß: Im Beobachtungszeitraum von 2013 bis 2016 wuchs die Pseudokolonie beständig an. Auf dem Höhepunkt dürfte sie laut den Forschern fast eine Million Mitglieder gehabt haben.

Wie die Tiere überleben konnten

Nun haben Forscher der Polnischen Akademie der Wissenschaften im "Journal of Hymenoptera Research" einen Epilog zur Geschichte dieser Ameisen veröffentlicht. Und der hat zwar seine grimmigen Züge, aber auch ein Happy End. Für den grimmigen Teil sorgt die Ernährung der sechsbeinigen Insassen: Das Team um Wojciech Czechowski und István Maák konnte der Reihe nach alle infrage kommenden Nahrungsquellen – etwa Pilze – ausschließen. Nur eine Ressource stand den Ameisen ausreichend zur Verfügung: die Kadaver von Artgenossen.

Neben einer Million lebender Ameisen enthielt der Bunker zuletzt auch etwa zwei Millionen tote. Als die Forscher diese Kadaver näher untersuchten, stellten sie fest, dass 93 Prozent von ihnen Löcher im Bauchbereich und andere Bissspuren aufwiesen. Die Ameisen konnten also nur als Kannibalen überlebt haben.

Die Forscher weisen darauf hin, dass dieses Verhalten weit weniger ungewöhnlich ist als die Pseudokolonie an sich. Jeden Frühling würden benachbarte Kolonien regelrechte Kriege gegeneinander führen. Dabei werden nicht nur die Grenzen abgesteckt, die gefallenen Soldatinnen liefern zugleich wertvolles Protein, das so früh im Jahr noch ein rares Gut ist. Czechowski und Maák sehen einmal mehr die hohe Anpassungsfähigkeit der Ameisen bestätigt, die ihnen das Überleben selbst unter ungünstigsten Bedingungen ermöglicht.

Barmherzigkeit, gepaart mit Neugierde

Die Geschichte der Bunker-Ameisen endet indes auf einer positiven Note. Wie die Wissenschafter die Welt erst jetzt wissen ließen, entschieden sie sich direkt im Anschluss an ihre erste Studie dafür, die Ameisen zu befreien. Im Herbst 2016 stellten sie den Tieren im Schacht eine improvisierte Holzrampe zur Verfügung, und die wurde auch schon bald genutzt. Im Februar 2017 war der Boden des Schachts bereits weitestgehend verlassen (von den Leichenbergen abgesehen).

Ein reiner Akt der Barmherzigkeit, der nicht zu unbeteiligter wissenschaftlicher Beobachtung zu passen scheint, war es aber nicht. Immerhin ermöglichte die neue Fluchtmöglichkeit den Forscher weiteres Studium zum Verhalten der Ameisen. Ein Testlauf mit einer geringen Anzahl von Tieren hatte bereits gezeigt, dass die "gefallenen" Tiere anstandslos in die Mutterkolonie wiederaufgenommen wurden. Dass ihre Rückkehr zu keinerlei Aggressionen führte, war der letzte Beweis dafür, aus welcher Quelle die Pseudokolonie entsprungen war. Und die Forscher hoffen darauf, "weiteres faszinierendes Ameisenverhalten" beobachten zu können.

Der Status quo sieht so aus, dass aufgrund der ungünstigen Architektur weiterhin am laufenden Meter Ameisen in den Schacht stürzen. Aufgrund der Rampe ist allerdings aus einer tödlichen Sackgasse nur ein lästig langer Umweg geworden – und von solchen Kleinigkeiten lassen sich fleißige Ameisen nicht verdrießen. (jdo, 10.11.2019)