Vorbemerkung: Seit Verfassen des Beitrags gab es neue Entwicklungen im Fall Assange: Schweden lässt den Vergewaltigungsvorwurf fallen - der STANDARD berichtete. Der folgende Text ist deswegen nicht hinfällig. In Wahrheit hat sich dadurch nichts geändert, weder an den menschenrechtswidrigen Haftbedingungen und der skandalösen Prozessführung und daran, dass das alles viel zu wenig Thema in der Öffentlichkeit ist, noch daran, dass Assange wegen des Auslieferungsverfahrens in Haft sitzt. Und zwar geht es da schon lange nur mehr um die Auslieferung in die USA. Die schwedischen Vorwürfe waren nur Vorwand, um des Wikileaks-Gründers habhaft zu werden, das wird nun sogar deutlicher. 

Eher wenig beachtet von der Weltöffentlichkeit gibt es andere, wenigstens ebenso schwerwiegende Dinge wie den Brexit, die zur Zeit in Großbritannien passieren und die leider keine derartige Aufmerksamkeit erhalten, obwohl sie es wahrlich verdient hätten: So der Prozess gegen Julian Assange, der unter zwielichtigen Umständen stattfindet und bei dem laut Beobachtern Anzeichen für schwere Menschenrechtsverletzungen gegen den Wikileaks-Gründer vorliegen.

Bericht des UN-Sonderberichterstatter für Folter

Man hätte es ja für eine übertriebene Befürchtung von Anti-Amerikanisten und Verschwörungstheoretikern halten können und wollen, als bald nach der Verhaftung Assanges am 11. April in der Ecuoadorianischen Botschaft in London im Netz und auch bei einigen Usern des STANDARD die Rede davon war, dass er wohl nicht mehr lange leben würde. Selbiges scheint aber nun einzutreten. Zu diesem Schluss kommt nicht irgendwer, sondern niemand Geringerer als der Schweizer Völkerrechtsprofessor und UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer.

Mehr noch: Er macht die britische Justiz und Regierung direkt dafür verantwortlich: "Trotz der medizinischen Dringlichkeit meiner Beschwerde und der Schwere der mutmaßlichen Verstöße hat das Vereinigte Königreich nach internationalem Recht nicht die erforderlichen Ermittlungs-, Präventions- und Rechtsmittelmaßnahmen ergriffen", heißt es in Melzers Bericht. "Was wir von der britischen Regierung gesehen haben, ist eine völlige Missachtung der Rechte und Integrität von Herrn Assange".

Historiker und Folterexperte als Prozessbeobachter

Detailiierter wird der britische Historiker, Ex-Botschafter und Menschenrechtsaktivist Craig Murray, der professionelle Erfahrung mit Symptomen bei Folteropfern hat und am 21. Oktober beim ersten öffentlichen Auftritt Assanges seit seiner Verhaftung – einer Anhörung vor Gericht anlässlich des Auslieferungsverfahrens – zugegen war. In seinem Bericht meint er, dass der Wikileaks-Gründer "möglicherweise nicht bis zum Ende des Auslieferungsverfahrens überleben würde."

Murray berichtet von gravierenden Anzeichen des körperlichen Verfalls bei Assange. Seit seiner Verhaftung habe er mehr als 15 Kilo Gewicht verloren und weise Merkmale stark beschleunigten Alterns auf. Außerdem hinke er plötzlich, was er nie zuvor getan habe.

Viel schwerwiegender seien aber die psychischen Symptome:  Murrays Beobachtung zufolge "zeigte [Assange] genau die Symptome eines Folteropfers, das blinzelnd ins Licht der Öffentlichkeit gebracht wird, insbesondere in Bezug auf Orientierungslosigkeit, Verwirrung und die echte Mühe, seinen freien Willen durch den Nebel antrainierter Hilflosigkeit zu behaupten."

Assange bereitete es sogar große Schwierigkeiten, auch nur seinen Namen und das Geburtsdatum zu nennen, als er darum gefragt wurde. Und Murray geht so weit zu sagen, dass Julian Assange „vor unseren Augen zu Tode gefoltert“ werde.

Inwieweit diese Symptome jedoch wirklich auf die aktuelle Haft zurückgehen oder auf etwas, was zuvor mit Assange passiert ist, bleibt tatsächlich zunächst unklar. Offenbar spielt beides zusammen.

Liest man die Äußerungen Melzers, die sich auf eine medizinische Untersuchung beziehen, die bereits am 9. Mai stattgefunden hat, spricht er von "prolonged exposure to psychological torture", was von den meisten deutschsprachigen Medien mit "jahrelanger psychischer Folter" übersetzt wird. Das wirft vorerst Fragen danach auf, wie sich der sieben Jahre lange Aufenthalt in der Ecuadorianischen Botschaft auf Julian Assange ausgewirkt hat.

Entlastet das aber die britischen Behörden? Keineswegs.

Assange am 1. Mai in einem Polizeiauto.
Foto: APA/AFP/DANIEL LEAL-OLIVAS

Haftbedingungen

Skandalös – und darin stimmen die Beobachtungen Melzers und Murrays überein – sind nämlich die derzeitigen Haftbedingungen und die Art der Prozessführung, die schwerwiegende Verstöße gegen menschenrechtlichen Standards beinhalten, vor allem aber für jemandem ein Todesurteil darstellen, der sich in einem derartig labilen Gesundheitszustand wie Assange befindet.

Das, was Assange in der Ecuadorianischen Botschaft erlebt und ihn psychisch und physisch zugrunde gerichtet hat, wird nun, nur noch verschärft, fortgesetzt. Gefangen gehalten wird er im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. Murray dazu: "In Belmarsh wird er 23 Stunden am Tag in völliger Isolation gehalten. Er hat 45 Minuten Hofgang. Wenn er im Gebäude bewegt wird, räumen sie die Gänge, bevor er diese entlanggeht, und alle Zellentüren werden verriegelt, um sicherzustellen, dass er außerhalb des kurzen und streng überwachten Hofgangs keinen Kontakt zu anderen Gefangenen hat. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass dieses unmenschliche Regime, das gegen Top-Terroristen eingesetzt wird, einem Verleger, der ein Untersuchungshäftling ist, auferlegt wird."

Ähnlich äußert sich Melzer. Er beschuldigt die Behörden, sich nicht um den Gesundheitszustand Assanges zu kümmern und ihn unter Bedingungen zu verwahren, die in keinem Verhältnis zur Schwere des einzigen Delikts stehen, für das er bislang tatsächlich rechtskräftig verurteilt ist, nämlich einem Verstoß gegen Kautionsauflagen.  

Prozessführung

Im laufenden Verfahren geht es um die von den USA geforderte Auslieferung. Assange wird dabei grundlegender Möglichkeiten sich zu verteidigen beraubt. Er erhält keinen Zugang zu Dokumenten, nicht einmal zu seinen eigenen Aufzeichnungen, die laut Aussagen seiner Anwälte von der US-Regierung beschlagnahmt wurden. Auch der Kontakt zu den Anwälten selbst ist weitreichend eingeschränkt. Ohnehin aber befindet sich der laut Murray während der Anhörung in einen Kasten aus Panzerglas gesperrte Assange in einem geistigen Zustand, der es ihm schwierig macht, überhaupt zu begreifen, was um ihn geschieht.

Eine besondere Rolle kommt dabei offensichtlich der Richterin Vanessa Baraitser zu, die Murrays Schilderungen zufolge "noch nicht einmal so tat, als würde sie zuhören", wenn die Anwälte Assanges sich zu Wort meldeten. Auf dessen psychischen Zustand hingewiesen, gab sie jedoch die Auskunft, sie "könnten ihm ja später erklären, was sich zugetragen habe, wenn er nicht in der Lage sei, das Verfahren zu verfolgen."

Die Staatsanwälte unter Leitung des Kronanwalts James Lewis wiederum berieten sich während einer Pause mit ebenfalls anwesenden Vertretern der US-Regierung, deren Anweisungen sie sklavisch Folge leisteten. An diese Vorgaben hielt sich auch nahtlos Richterin Baraitser.

Konkret ging es dabei um den Zeitplan für das Auslieferungsverfahren und die Frage, ob es nicht einer Voruntersuchung über die Anwendbarkeit des Auslieferungsgesetzes bedürfe, wie es die Anwälte Assanges forderten. Sie bekundeten auch, dass sie aufgrund der schwierigen Umstände mehr Zeit für die Vorbereitung ihrer Beweise bräuchten. Dies wurde abgelehnt.

Weiterer Verlauf des Verfahrens

Für den weiteren Verlauf der Anhörung schlug laut Beobachtung Murrays der Kronanwalt vor, "dass es der Verteidigung nicht erlaubt sein sollte, die Zeit des Gerichts mit vielen Argumenten zu verschwenden", während die Richterin ankündigte, dass die Anhörung in Hinkunft nicht mehr im Westminster Magistrates Court stattfinden solle, sondern nach Belmarsh verlegt werde. Dabei handelt es sich um ein Gerichtsgebäude, das direkt an das Hochsicherheitsgefängnis angeschlossen ist. Üblicherweise werden dort nur Verhandlungen gegen Terroristen geführt. Murray vermutet, dass man der Öffentlichkeit den Zugang erschweren will, da dort für Zuhörer höchstens sechs Plätze vorhanden sind.

Vorgeschichte

Melzer wiederum, der UN-Sonderbeauftragte für Folter, hat bereits im Juni 2019 einen Text veröffentlicht, in dem er darüber hinausgehend auch die Vorgeschichte zur Verfolgung Assanges in Frage stellt und auf Ungereimtheiten hinweist. Diese Verlautbarung sei hier zum Nachlesen angeführt. (Ortwin Rosner, 19.11.2019)

PS: Es gibt abgesehen von dem in der Vorbemerkung Erwähnten auch andere aktuelle Entwicklungen, die ich nicht mehr in meinen Beitrag einzubauen vermochte. Mittlerweile hat sich in London eine breitere aktivistische Front der Unterstützung für Assange zusammengefunden und konsolidiert, unter Beteiligung Prominenter wie dem Philosophen Srećko Horvat und der Modedesignerin Vivienne Westwood.

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