Demonstranten fordern den Rücktritt von Parlamentspräsident Al-Ghanim: Er hatte das Ausmaß von Korruption und Misswirtschaft geleugnet.

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In Kuwait sind Demonstrationen an sich nichts völlig Ungewöhnliches: Im Gegensatz zu den anderen arabischen Golfstaaten ist das Recht darauf sogar verfassungsmäßig garantiert, solange sie friedlich, angemeldet und genehmigt sind. Aber in Zeiten, in denen der Süden des benachbarten Irak von Protesten und Unruhen überzogen wird, erhalten die jüngsten Kundgebungen in Kuwait-Stadt eine ganz andere Aufmerksamkeit. Die Golfstaaten befürchten Ansteckung.

Am Mittwoch hatten sich hunderte Demonstranten auf dem Erada-Platz in Kuwait-Stadt versammelt und unter der Parole "Jetzt reicht's" gegen Korruption, Arbeitslosigkeit, eine grassierende private Schuldenkrise und für Neuwahlen und eine neue Regierung demonstriert. Wie meist nahmen auch viele Staatenlose teil, die ihre Bürgerrechte einforderten, die sogenannten Bidun. Bidun heißt "ohne", gemeint ist ohne Staatsbürgerschaft.

Im November 2011, dem Jahr des Arabischen Frühlings, führten solche Proteste zum Rücktritt des Premiers – das ist in Kuwait stets ein Mitglied der Herrscherfamilie Sabah – und zu Neuwahlen. Allerdings auch zu Prozessen und Verurteilungen von dutzenden Personen. Damals hatten Demonstranten das Parlament gestürmt.

Kuwait hat für Golf-Verhältnisse ein sehr aktives und mit demokratischen Rechten ausgestattetes Parlament – das der Emir allerdings gerne auflöst, wenn es zu lästig wird. Momentan ist die Opposition im 50-Sitze-Haus eher schwach. Gewählt wurde zuletzt 2016, mit einer Nachwahl heuer im Frühjahr, weil auch zwei Parlamentarier zu den wegen 2011 Verurteilten gehörten.

Niedriger Ölpreis

Kritik am Emir, Sabah al-Ahmad al-Jaber al-Sabah (90), ist verboten. Anders ist das beim Premier Jaber al-Sabah und vor allem beim Parlamentspräsidenten Marzuq al-Ghanim, der durch eine Parlamentsrede Ärger erregte, in der er das Problem Korruption als übertrieben bezeichnete. Die Demonstranten sehen das anders.

Das reiche Kuwait spürt den niedrigen Ölpreis. Die soziale Schere geht auseinander, immer mehr Kuwaitis können ihre hohen Kreditzinsen nicht zurückzahlen. Auch Jobs sind rar im Emirat, in dem die Staatsbürger nur 30 Prozent der 4,7 Millionen Einwohner ausmachen. Ausländische Arbeitskräfte werden oft gehandelt wie Ware – soeben rief eine einschlägige App die Empörung von Menschenrechtsaktivisten hervor.

Die Proteste am Mittwoch ähneln jenen im Irak und Libanon nur insofern, als sie von keiner bestimmten Gruppe angeführt werden. Sie haben jedoch einen Organisator, Saleh al-Mulla, der von den Behörden die Genehmigung zu einer "stillen Mahnwache" einholte. Er ist Exparlamentarier und geriet 2015 wegen des Beleidigungsparagrafen mit dem Gesetz in Konflikt.

Die Staatenlosen

Die Bidun, die Staatenlosen, sind stets mobilisierbar, sie fallen in den letzten Jahrzehnten zunehmend aus dem System. Sie werden auf etwa 100.000 geschätzt. Die allermeisten sind in Kuwait geboren und sind trotzdem als "illegale Bewohner" eingestuft.

Das Phänomen geht auf die Zeit der Unabhängigkeit 1961 zurück: Damals war es für urbane Bewohner leichter, Papiere in dem neuen Staat in Ordnung zu bringen. Für manche Stammesaraber in der Region zwischen Kuwait, Irak und Saudi-Arabien war das Konzept einer territorial definierten Staatsbürgerschaft auch völlig fremd.

Später kamen Nichtkuwaitis dazu, die von Kuwait in die Armee und die Polizei rekrutiert wurden: Man wollte nicht zugeben, dass man Iraker und andere aufnimmt, ihnen aber auch keine Staatsbürgerschaft geben – so wurden sie Bidun. Und natürlich gab es auch (vor allem) Iraker, die ihre Papiere wegwarfen, in der Hoffnung, sich ein neues Leben in Kuwait aufbauen zu können. Lange hatten die Bidun Zugang zum Sozialsystem, das änderte sich erst in den 1980ern. Und als beim Überfall Saddam Husseins im Sommer 1990 nicht alle loyal zu Kuwait standen, wandte sich die öffentliche Stimmung gegen sie.

Die Bidun gingen heuer schon einmal auf die Straße – nach einem Suizid eines Bidun, von ihm begründet durch dessen verzweifelte Situation. Es folgte ein zweiter. Zwar gibt es einen Gesetzesentwurf, der vielen von ihnen zumindest ein Aufenthaltsrecht gewähren sollte, aber auch das ist im Parlament umstritten. Die Bidun wollen nicht weniger als die Staatsbürgerschaft. Es ist leicht zu prognostizieren, dass sie diese nicht bekommen werden. (Gudrun Harrer, 9.11.2019)