Im Gastkommentar erklärt Mark Leonard, Direktor des Thinktanks ECFR, warum wir das Erbe des Jahres 1989 nicht nur aus der Perspektive der Mauerfallfeierlichkeiten in Berlin betrachten sollten. Einen weiteren Gastbeitrag zu 30 Jahre Mauerfall gibt es von Goran Buldioski, dem Leiter des Berliner Büros der Open Society Foundations.

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Europa im Jahr 1989 träumten viele vom Aufbau eines vereinten und freien Europa, in dessen Zentrum die EU stehen sollte. Dreißig Jahre später sind die Europäer allerdings mit einer anderen Realität konfrontiert. In Westeuropa legen führende Politiker ihr Veto gegen eine fortgesetzte Erweiterung der Union ein, weil sie fürchten, dass die Osteuropäer nicht bereit sind, liberale Werte anzunehmen. Und in Mittel- und Osteuropa steigen die Ressentiments gegenüber Westeuropa aufgrund der dort an den Tag gelegten Reaktionen auf Einwanderung und andere Probleme.

Deutlich zutage trat diese Dynamik in der Qualifikation für die Fußball-EM 2020, wo ein Spiel zwischen England und Bulgarien zu einer Auseinandersetzung zwischen zwei grundlegend verschiedenen Vorstellungen europäischer Identität geriet. Die Partie, die in Sofia ausgetragen wurde, musste zweimal unterbrochen werden, um die Anhänger der Heimmannschaft vor rassistischem Verhalten zu warnen, darunter zum Nazigruß erhobene Arme und gegen die Spieler Englands gerichtete Affenlaute.

Illustration: Felix Grütsch

Moralische Missionierung

Nach dem Match lag die britische Meinungselite vereint im Fieber moralischer Rechtschaffenheit gegen die von ihnen so empfundene Barbarei der bulgarischen Fans. Da der Multikulturalismus in den vergangenen 30 Jahren zu einem zentralen Bestandteil der britischen Nationalgeschichte geworden ist, befürchten viele ethnische Minderheiten, dass der von ihnen in Kontinentaleuropa wahrgenommene Rassismus einen Rückfall in eine hässliche Ära der Ungleichheit und Ausgrenzung darstellt.

Eine Ironie dieser Geschichte rund um die EURO 2020 liegt daher darin, dass sie als weitere Begründung für die Entscheidung des Vereinigten Königreichs angeführt wird, die EU zu verlassen. Dem Pro-Brexit-Lager zufolge wird das Ende der automatischen Einwanderung aus Europa es Menschen aus Indien, Bangladesch, Pakistan und der Karibik erleichtern, sich in Großbritannien anzusiedeln.

Aus bulgarischer Perspektive erscheint die moralische Missionierung durch die Briten jedoch als Heuchelei. Schließlich bildeten während der Brexit-Referendum-Kampagne 2016 bulgarische und rumänische Einwanderer das Ziel rassistischer Rhetorik. Und wie vielfach in bulgarischen Medien hervorgehoben, waren Englands rassistische Hooligans 1985 für die tödliche Katastrophe im belgischen Heysel-Stadion verantwortlich. Wenn das Motiv für den Brexit darin besteht, das typisch Englische zu bewahren, stellen die Osteuropäer keine größere Bedrohung dar als der Multikulturalismus.

Zeitalter der Nachahmung

In ihrem brillanten Rückblick auf 1989, Das Licht, das erlosch, argumentieren Ivan Krăstev vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien und Stephen Holmes von der New York University, dass der Fall der Berliner Mauer nicht das "Ende der Geschichte" markierte, sondern den Beginn eines Zeitalters der Nachahmung. Als die früheren Ostblockländer in Mittel- und Osteuropa begannen, Kultur, Werte und gesetzliche Rahmenbedingungen Westeuropas nachzuahmen, war dies ein Grund zur Freude für jenige, die von einem freien, vereinten Europa träumten.

Das Problem bestand darin, dass Millionen Menschen in diesen Ländern zu einer Erkenntnis gelangten: Wenn es das Ziel war, so zu werden wie die Deutschen oder die Briten, wäre es einfacher in diese Länder auszuwandern, als sich daheim dem schmerzlichen Prozess zu unterziehen, ihre Gesellschaften zu Abbildern der anderen zu verwandeln. Als Folge dieser Entwicklung wanderten 20 Prozent der Bulgaren – wovon überproportional viele dem liberalsten und am besten ausgebildeten Bevölkerungssegment angehörten – nach Westeuropa aus.

Frustration und Wut

Die Zurückgebliebenen begannen, ihre eigenen Aussichten nicht mit denen ihrer Eltern zu vergleichen, sondern zunehmend mit jenen der glücklichen Eliten, die sich im Ausland angesiedelt hatten, um den westlichen Traum zu leben. Das führte zu weit verbreiteter Frustration und Wut gegen die postkommunistische Klasse liberaler Reformer in Mittel- und Osteuropa. Diese westlich orientierten Eliten scheiterten nicht nur daran, den unrealistischen Erwartungen hinsichtlich der Nachahmung des Westens zu entsprechen; sie ermöglichten auch die massenhafte Abwanderung der Gebildeten.

Als 2015 die Flüchtlingskrise ausbrach, verschärfte sich unter den verbliebenen Einheimischen der postkommunistischen Länder die ohnehin bestehende Angst vor demografischer Auslöschung. Diese Ängste schufen ein ideales politisches Umfeld für illiberale populistische und nationalistische Politiker wie den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und Polens De-facto-Herrscher Jarosław Kaczyński.

Westliche Überlegenheit

"Während sich der Osten immer noch homogen und monoethnisch präsentiert", schreiben Krăstev und Holmes, "wurde der Westen, aufgrund einer von antiliberalen Politikern als gedankenlos und selbstmörderisch betrachteten Einwanderungspolitik, heterogen und multiethnisch." Infolgedessen ist das Zeitalter der Nachahmung – mit seiner stillschweigenden Akzeptanz der westlichen Überlegenheit – definitiv zu Ende gegangen.

Ein ähnlicher Prozess umgekehrter kultureller Spiegelung trat bei dem Fußballspiel England – Bulgarien und auch in der Zeit danach zutage. Beide Seiten behaupteten, von den Handlungen der jeweils anderen moralisch abgestoßen zu sein. Obwohl man in Großbritannien in den letzten 30 Jahren von der impliziten Duldung des Rassismus zur Preisung des Multikulturalismus überging, hat man auch eine Allergie gegen die Personenfreizügigkeit aus Mittel- und Osteuropa entwickelt. Bulgarien hingegen möchte sehr gerne in der EU bleiben, fürchtet sich jedoch vor einem weiteren demografischen Wandel durch die Auswanderung und den Zustrom von Neuankömmlingen aus dem Nahen Osten und anderen Ländern.

Absurde Situation

Für einen Betrachter aus dem Jahr 1989 würde sich die aktuelle Situation zweifellos absurd präsentieren. Wer hätte gedacht, dass Großbritannien aus der EU fliehen würde oder dass die Befürworter dieses Schritts ihre Argumentation mit ethnischer Vielfalt begründen? Und wie viele Mittel- und Osteuropäer hätten vorhergesehen, dass ihre Regierungen versuchen würden, die EU zu einem illiberalen Projekt umzugestalten?

Wie so oft zeigen sich tiefgreifende historische Veränderungen zuerst in der Populärkultur und erst später in der formellen Politik. Aus diesem Grund sollten wir das komplexe Erbe des Jahres 1989 nicht nur aus der Perspektive der Feierlichkeiten in Berlin betrachten, sondern auch im Lichte der Vorkommnisse auf den Tribünen eines Fußballstadions in Sofia. (Mark Leonard, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 9.11.2019)