Matthias Beier bei der Arbeit.

Foto: Thorben Pollerhof

Vor der Rotenlöwengasse 17 im neunten Wiener Gemeindebezirk ist es staubig und laut. Arbeiter hantieren auf der Baustelle nur wenige Meter entfernt. "Ist der dreckig", sagt Matthias Beier, als er sich hinkniet, einen großen Klecks Cif auf den messingfarbenen Stein der Erinnerung träufelt und ihn mit einem Akkubohrer samt Topfbürstenaufsatz sorgfältig bearbeitet. Er wischt mit einem Papiertuch den Schaum von der Oberfläche, schon glänzt der Stein wie neu.

Gewidmet ist er unter anderem Berta Schwarz, geboren am 4. August 1875, deportiert am 11. Jänner 1942 von Wien nach Riga. Ermordet. Beier blickt einen Moment auf sein Werk, richtet sich auf und sagt: "Der wird morgen wieder genauso dreckig sein."

Über 600 Denkmäler für über 2000 Menschen

Beier ist seit Jahren für die Reparatur und Reinigung der sogenannten Steine der Erinnerung zuständig. Die kleinen, in den Boden eingelassenen oder an Hauswänden befestigten Steine oder Tafeln gedenken der Opfer des Nationalsozialismus, die meisten davon waren jüdische Bürger Wiens. Über 600 dieser Denkmäler sind über fast alle Bezirke verteilt und verewigen über 2000 Menschen.

Einmal die Woche ist Beier in seinem alten Dienstauto durch Wien unterwegs. Dieses Mal im neunten Bezirk, Alsergrund. Beier ist 34 Jahre alt, trägt eine runde, silberfarbene Brille auf der Nase, hat kurze, schwarze Locken und einen Dreitagebart. Sein grauer Arbeitsmantel ist schmutzig, genauso wie seine Schuhe, die Gummihandschuhe zieht er zur Begrüßung aus. Die Reinigung findet im Achtwochenrhythmus statt. Einzelne Steine werden immer wieder auch von Privatleuten gereinigt.

Stolpersteine in Deutschland

1992 startete der deutsche Künstler Gunter Demnig sein Projekt der "Stolpersteine" in Köln. Die Wiener Steine der Erinnerung orientieren sich an denen Demnigs, auch wenn Beier kritische Worte über den Künstler findet. Ihm gehe es nicht mehr um das Gedenken, sondern nur noch um Kunst.

Dazu kommt, dass viele Stolpersteine in Deutschland aus dem Asphalt herausstehen, die Menschen also wortwörtlich über sie stolpern. Die Steine der Erinnerung in Wien hingegen sind vollständig in den Boden eingelassen. Das Prinzip bleibt gleich: Will man die Inschrift eines Steins lesen, muss man sich hinunter- und damit vor dem Opfer verbeugen.

Beier weiß, wie wichtig die Steine für die Angehörigen sind. "Für viele Familien ist es schlimm, dass sie kein Grab haben, an das sie gehen können", sagt er. Die Steine würden dabei helfen, mit diesem Schmerz besser umgehen zu können. Beier selbst merkte das, als vor ein paar Jahren der Stein für seinen Großonkel gelegt wurde: "Das war überraschend emotional." Auch in der mittlerweile vierten Generation sei sie da, die "offene Wunde" der Shoah.

Jüdischer Humor und traurige Themen

Seinem jüdischen Humor lässt Beier immer wieder freien Lauf. Den habe er von seinem Großvater geerbt. In der einen Sekunde erzählt er über die Steinsetzung für seinen Großonkel, im nächsten Moment über sein erstes "Schrottauto", das er sich mit seinem Bruder geteilt hat und das regelmäßig abgeraucht ist. Das Gespräch, sei es noch so voller trauriger Themen, ist nie ein melancholisches.

Zudem habe sich seit den 1990ern in Wien viel verändert. Als er anfing, die Steine zu reinigen, war Wien grau und antisemitisch, sagt er. Das habe sich verbessert. "Wahrscheinlich sind alle alten Nazis tot." Antisemitismus werde in der heutigen Gesellschaft nicht akzeptiert, zumindest in Wien. Im Gegenteil. Für das Projekt merkt er nichts als Unterstützung von der Stadt und von den helfenden Firmen. "Mir hat schon einmal jemand die Polizei an den Hals rufen wollen, als ich zur Reinigung gekommen bin", sagt Beier. Dieser Jemand dachte, er würde den Stein beschädigen wollen. Der Wiener Protektionismus greift dann eben schnell.

Großes Interesse am Projekt

Meist werden Beschädigungen innerhalb eines Tages gemeldet, das Interesse der Wienerinnen und Wiener an dem Projekt sei groß. "Es ist sehr erfüllend", sagt Beier. Auch Anfeindungen oder Zerstörungen hätte er nur sehr selten erlebt. "Vor einer Wahl kann es sein, dass einmal ein Stein beschmiert ist, aber das ist wirklich die Ausnahme."

Am Ende des Tages sind alle Steine im neunten Bezirk gereinigt. Wenn die Messingplatten glänzen, stechen sie beim Vorbeigehen ins Auge. Man kann fast nicht anders, als kurz den Blick zu senken, um zu lesen, wem dieses Denkmal gewidmet wurde. Der Stein in der Rotenlöwengasse 17 dürfte zu diesem Zeitpunkt schon wieder dreckig sein. Das ist Beier egal. Er wird spätestens in zwei Monaten wieder hier sein. Mit Akkubohrer und Cif. Gegen das Vergessen (Thorben Pollerhof, 09.11.2019).