Politologe Ivan Krastev, Linguistin Ruth Wodak, Moderator Ivan Vejvoda, die Historiker Constanze Itzel und Jacques Rupnik (v. li.).

Foto: STANDARD / Robert Newald

Was eint die Europäer, was trennt sie, und wohin geht dieser Kontinent in Zeiten des wiedererstarkenden Nationalismus?" Diese Fragen waren am Sonntag Ausgangspunkte einer Diskussion der Reihe "Europa im Diskurs" im Burgtheater. Dass Europa die Summe seiner Menschen, Blickpunkte und historischen Ereignisse ist, darin waren sich die Gäste einig, die das Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) und die Erste Stiftung zu der gemeinsam mit dem STANDARD und dem Burgtheater ausgerichteten Diskussion geladen hatten.

Der Zeitpunkt hätte passender nicht sein können: Gleich zwei für die Identität Europas zentrale Ereignisse haben aktuell besondere Präsenz: die Novemberpogrome des Jahres 1938, Auftakt zu einem der dunkelsten Kapitel der europäischen Geschichte; und der Fall der Berliner Mauer sowie der Zusammenbruch des Kommunismus in Europa im Jahr 1989, als ganz Europa von Aufbruchsstimmung und europäischer Einigung getragen war.

Das Jahr 1989

Aber nicht nur der Öffnungsgedanke, auch Nationalismen seien ein wichtiger Teil des Sieges über den Kommunismus im Jahr 1989 gewesen, betonte Ivan Krastev, Politologe und IWM Permanent Fellow. Danach habe aber das Narrativ vorgeherrscht, dass 1989 ein geeintes Europa hervorgebracht habe, Nationalismus als Gefühl wäre in den Neunzigerjahren nur unter der Oberfläche vorhanden gewesen. Dem widersprach die Sprachwissenschafterin Ruth Wodak und verwies auf die Waldheim-Affäre und den Aufstieg des Rechtspopulisten Jörg Haider in Österreich.

Der historische Blick auf Europa würde bis heute durch die "nationale Brille" erfolgen, erläuterte Constanze Itzel, Leiterin des Hauses der europäischen Geschichte in Brüssel. Dabei würde der Nationalstaat meist in Gegensatz zu Europa gesetzt – eine Abgrenzung, die politisch von rechtspopulistischen Parteien nach wie vor sehr erfolgreich instrumentalisiert würde. Nostalgie und Sehnsucht nach der guten alten Zeit spielten hier in Zeiten von zunehmender Unsicherheit eine zentrale Rolle. Das Gefühl, bewahren zu müssen, um das Erreichte nicht zu verlieren, sei in Europa derzeit massiv.

Wendepunkt Flüchtlingskrise

Aktuell könne man das vor allem am Jahr 2015 festmachen, dem Jahr der sogenannten Flüchtlingskrise in Europa. Für Ruth Wodak ein zentraler Wendepunkt: "Neue Mauern entstanden, die Festung Europas war aktuell wie nie." Vor vier Jahren habe sich damit abermals gezeigt, dass Nationalstaaten stark religiös geprägt seien. In den Ländern Osteuropas, etwa in Polen, hätte man zwar Migranten aus der Ukraine gerne aufgenommen, die Zuwanderung von Muslimen allerdings abgelehnt.

Der französische Politikwissenschafter und Historiker Jacques Rupnik betonte, dass nicht nur die Menschen, sondern auch die Politik die geänderten geopolitischen Vorzeichen akzeptieren müsste: "Wenn das transatlantische Verhältnis nicht mehr funktioniert, muss man sich eben selbst um die Sicherheit Europas kümmern: Wer nationale gegen europäische Interessen ausspielt, hat nichts verstanden", so Rupnik.

Rupnik wie Itzel betonten auch die Wichtigkeit von positiven Visionen für Europa im Westen wie im Osten. Zu sehen, dass das europäische Projekt Einzigartiges wie Stabilität, Demokratie und Freiheit hervorgebracht habe, könne man nicht oft genug erwähnen. Das Großartige am europäischen Projekt sei, so Rupnik, dass bereits viele verschiedene "europäische Träume" innerhalb Europas verwirklicht wurden.

Dem aktuell vorherrschenden Gefühl der Angst vor der Zukunft müsse aber auch mit einem gemeinsamen Fokus auf den Bau eines sozialen Europas begegnet werden, betonte Ruth Wodak: "Transnationale Solidarität muss möglich sein, sonst bleibt die Krise". (Manuela Honsig-Erlenburg, 10.11.2019)

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