In der letzten Folge wurde erwähnt, dass Lena mit ihrer Freundin Anna eine Musikschule besuchte. Sie spielte als Kind Waldhorn, später Baritonhorn und träumte davon, einmal eine berühmte Tubistin zu werden. Anna spielte Geige und mochte es gar nicht.

"Du bist keine Tubistin!"

Im Alter von sechzehn Jahren wechselte Lena vom Baritonhorn zur Tuba. Doch als ihr die Puste ein Jahr später ausging, gab sie auf und musste sich eingestehen, dass sie wohl niemals erfolgreiche Tubistin werden würde. Aus der Traum. Sie konzentrierte sich auf ihre Matura und auf das süße Leben, das danach nicht kam.

Dreizehn Jahre später blickte Lena zurück. Tubistin war sie nicht geworden, Informatikerin auch nicht. Den Plan, Literaturwissenschafterin zu werden, verwarf sie. Lena hatte keinen Job mehr, der sie tagtäglich beschäftigte, dafür genügend Zeit, Berberitzen zu sammeln und damit Marmelade einzukochen – eine Tätigkeit, die sie sehr liebte.  

Die Frau ohne Eigenschaften benötigte relativ wenig zum Leben. Sie hatte kaum Ausgaben, besaß weder eine Wohnung, noch ein Auto, noch ein Haustier, noch einen Garten, dafür eine Holzzahnbürste. Das Kleinstadtleben, das sie führte, war einfach. Manchmal fragte sich Lena, ob Minimalismus und Provinz zusammenpassten. Die Menschen in ihrer Stadt waren langsam und langweilig, müde von allem, nicht getrieben, nicht voller Ehrgeiz. Diese pensionistische Atmosphäre, die sie umgab, ließ sie schlafen. Lena strebte nun nach nichts. Und irgendwie war das ganz fein. 

Planlos Autodromfahren.
Foto: Ruth Höpler

Kinder und Job – Ein Zwischendurchmarmeladeeinkochen? 

Die Ehe kam für ihren Liebsten, Paul, und sie aktuell nicht in Frage. Sie überlegte, ob sie irgendwann, Kinder gebären wollte. Hausfrau werden, war in Kakanien noch vor wenigen Jahrzehnten kein unüblicher Berufsweg. Lena gestand sich ein, dass sie Bären zwar sehr gerne mochte, aber Kinder bedeuteten für sie das Eingehen unheimlicher Verpflichtungen. Sie fühlte sich nicht bereit, Macht auf wehrlose kleine Geschöpfe auszuüben, um sie auf das neopostfaktische Zeitalter vorzubereiten. Weder war sie motiviert, ihre Freiheit und Unabhängigkeit nach jahrelanger Karrierestrebsamkeit aufzugeben, noch hatte sie Lust dazu, ihr Leben fortan mit gehetztem Zwischendurchmarmeladeeinkochen zu verbringen, mit Hirsebrei auf der einen Schulter und dem Fahrradhelm am Kopf, auf der Hüfte ein Kind sitzend, das nicht damit einverstanden war, gleich in den Kindersitz bugsiert zu werden, um dann im Kindergarten die Stunden abzuwarten, bis es endlich wieder mit einem "Fridolina abgeholt" nach Hause gehen konnte. 

Lena würde es nicht erfreuen, in diesem Stück die Rolle der Vernunftsgurke zu übernehmen. Ihr war damals zu ihrer Kindergartenzeit auch nie danach gewesen, den ganzen Tag zwischen passiv aggressiven Bengeln zu hocken, die mit Gummifröschen um sich herumwarfen, den anderen Fratzen auf die Finger hauten, wie sie es von ihren Müttern gelernt hatten. Sie wollte es ihren Kindern ersparen, den ganzen Tag in einem stickigen Raum zu verbringen, eingekerkert, verpflichtet dem Morgenkreis beizuwohnen, vom eigenen Öko-Plastikgeschirr das Vollkornbrot mit Hummus hinunterzuschlucken oder heimlich von den coolen Kids ein Stückchen Milchschnitte zu stibitzen. 

Lena und die Mutterschaft 

"Irgendeiner muss schließlich immer der Nazi sein", sagte unlängst ein Freund von ihr beiläufig, als sie darüber sprachen, was Vernunft heutzutage sei und was es bedeutete, erwachsen zu werden. Lena kam zu dem Schluss, dass es als Mutter darum ging, die Kinder auf das systemische Leben vorzubereiten, das sie selbst nicht führen wollte. Mutterschaft hatte für die Frau ohne Eigenschaften etwas zutiefst Verlogenes und kam daher auch nicht als Karriere infrage. Also entschied sie sich, Utopistin zu bleiben. (Katharina Ingrif Godler, 14.11.2019)

Fingerzeig

  • Die Begriffe Minimalismus, Simple life, Zeitwohlstand, Wabi-Sabi sind nun in aller Munde. Minimalismus ist ein Lebenstil, der konsum- und gesellschaftskritisch gestimmt ist, gegen die Schnelllebigkeit und Reizüberflutung agiert.

  • Besteht bereits das postfaktische Zeitalter? Und was kommt danach?
  • Kakanien ist in Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" eine nicht ganz ernst gemeinte Bezeichnung für Österreich. Existiert Kakanien heute noch? Was sagt Bad Ischl dazu? 

Zitate zu Kakanien

"Das Gesetz der Weltgeschichte [...] ist nichts anderes als der Staatsgrundsatz des 'Fortwurstelns' im alten Kakanien. Kakanien war ein ungeheuer kluger Staat."

(Der Mann ohne Eigenschaften, Erstes Buch, Kapitel 83 Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man Geschichte?)

"Besonders Kakanien war für den Umgang mit Wunsch- und Unwunschbildern ein ungemein geeignetes Land; das Leben hatte dort ohnehin etwas Unwirkliches, [...]"

"[...] Kakanien, ein Staat, der ursprünglich so gut wie jeder und besser als mancher andere gewesen war, [hatte] im Lauf der Jahrhunderte ein wenig die Lust an sich selbst verloren"

(Der Mann ohne Eigenschaften, Erstes Buch, Kapitel 107 Graf Leinsdorf erzielt einen unerwarteten politischen Erfolg)

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