"Ich bekam im Urteil ständig zu hören, dass ich mich geirrt hätte. Das war demütigend", erzählt die 32-jährige Juristin Hanna.

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Er quetscht sich unter einem Vorwand an ihr vorbei und reibt sich an ihrem Hintern. Kann das ein Versehen gewesen sein? Schon wieder? Oder die obszönen Witze. Waren es überhaupt Witze? Eine zweideutige Anspielung? Besser mal vorsichtshalber nichts sagen. "Ich habe es unterschätzt", sagt Hanna* heute rückblickend. Es war vor gut zwei Jahren, in einer Zeit, in der alle Welt über sexuelle Übergriffe sprach. Über Machtmissbrauch durch Vorgesetzte und Angestellte, denen Sanktionen im Job drohten, falls sie sich wehrten.

Schon wenige Woche nach Beginn der #MeToo-Debatte im Herbst 2017 wurden viele Stimmen laut, dass nun aber wirklich langsam übertrieben werde, gleichzeitig ging es abseits von diesem Diskurs im echten Leben weiter mit Übergriffen durch Vorgesetzte. Die Juristin Hanna war auch betroffen. Sie klagte ihren Chef – und verlor. Trotz ihres Know-hows als Juristin, trotz einer guten Dokumentation der Vorfälle und trotz #MeToo.

Die Übergriffe

Systematisch wurde es, als Hanna nach einer Vollzeitstelle fragte. Davor war sie als externe Mitarbeiterin einer Wiener Kanzlei beschäftigt. "Es gab zwar schon früher seltsame Kommentare, aber ich dachte, es wären 'Ausrutscher'", erzählt sie im Gespräch mit dem STANDARD. Für das Bewerbungsgespräch für die Vollzeitstelle wurde sie von ihrem Chef zu einem Termin in ein menschenleeres Büro bestellt, am 26. Oktober 2017, dem Nationalfeiertag. Es war nur zwei Wochen nach den ersten Veröffentlichungen über Harvey Weinstein. Tausende Frauen erzählten auf sozialen Medien von sexueller Belästigung, Nötigung und auch von Vergewaltigungen. So intensiv wie in dieser Zeit wurde noch nie zuvor darüber debattiert. Trotzdem brachten viele diese Diskussion offenbar in keiner Weise mit ihrem eigenen Verhalten in Verbindung. So wie Hannas Chef.

Der wollte den Bewerbungstermin bei einem gemeinsamen Restaurantbesuch fortsetzen – die Bewerbungsunterlagen ließ er im Büro. Private Fragen wurden gestellt, gewöhnlich war das nicht. "So etwas kommt nicht plötzlich", sagt Hanna. "Es ist nicht so, dass plötzlich der Chef daherkommt und dir auf den Hintern greift." Da sind diese kleineren Grenzüberschreitungen, die immer wieder kommen und von denen Hanna noch nicht weiß, wie sie sie einordnen soll. Es war immer zweideutig, erzählt sie, so, dass der Chef ihren Protest immer mit einem "was unterstellen Sie mir da – das war doch ganz anders gemeint" hätte abwehren können. Deshalb sagt sie erstmal nichts. Von einem Oralverkehr-"Witz" hat sie einer Freundin zwar erzählt, es gleichzeitig aber heruntergespielt – "was man in der Arbeit so alles erlebt!". Ins Detail wollte sie nicht gehen, "mit so etwas gibt man nicht an".

Vergebliche Gegenstrategien

Dann versucht Hanna gegenzusteuern. "Nicht über sexuelle Scherze lachen, nicht zu freundlich sein, nicht zu lange mit dem Chef in einem Zimmer bleiben." Ständig dachte sie daran, wie sie es vermeiden kann, in "irgendwelche Situationen" zu geraten. Dass gleichzeitig weltweit sehr kontroversiell über sexuelle Übergriffe debattiert wurde, hat Hanna manchmal als zusätzliche Belastung empfunden. "Durch die #MeToo-Debatte hatte ich oft das Gefühl, ich sei eine Mimose. Ständig wurde gesagt, man müsse Vergewaltigung und sexuelle Belästigung unterscheiden – das ist ja eh klar! Doch das bedeutet halt auch nicht, dass sexuelle Belästigung nicht schlimm ist."

Mit dem Abschluss des Dienstvertrages und somit mit der zunehmenden Abhängigkeit von ihrem Chef wurde es schlimmer: die verbalen Anzüglichkeiten, die Zudringlichkeiten, die Versuche des Chefs, mit ihr allein zu sein, das als "Zufall" inszenierte Reiben an ihrem Gesäß. Nur wenige Wochen nach ihrer Festanstellung ging es nicht mehr. Sie wies seine "Avancen" nun deutlich zurück. Der Chef kündigte sie daraufhin, und nicht nur das: Hanna musste sofort gehen. Die Dienstfreistellung hat sie Ausbildungszeit gekostet, die die angehende Anwältin dringend im Rahmen ihrer Ausbildung gebraucht hätte. Er stellte ihr auch ein schlechtes Dienstzeugnis aus. "Dieses Nachtreten war es dann, das mich dazu veranlasste zu klagen – wegen der sexuellen Belästigung allein hätte ich es nicht gemacht."

Der Prozess

Zwei Wochen nach ihrer Kündigung, nach zwei Wochen Schockstarre, hat Hanna Klage eingebracht – wegen der rechtswidrigen Kündigung aus "verpöntem Motiv", wie es im Juristendeutsch heißt, der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz und wegen der nachfolgenden Sanktionen, die ihr Chef selbst nach der Kündigung noch gesetzt hat.

Beim Prozess konnte sie zahlreiche schriftliche Belege vorlegen, zum Beispiel eine Mail an eine Freundin, in der sie konkret einen Vorfall beschreibt. Den streitet ihr Chef vor Gericht erst entschieden ab, nach Vorlage der Mail gibt er ihn zu, relativiert aber. Mehrfach wechselt er seine Version der Ereignisse, je nachdem, wie die Beweislage ist.

Der Prozess ist für Hanna eine schwere Belastung. Trotz vieler schriftlicher Belege und einer stringenten Erzählung der Vorkommnisse wird ihr jegliche Urteilskraft abgesprochen: Sie könne doch nicht so genau einschätzen, ob jemand in "normalem" Ton oder in "jovial-zweideutigem" Ton mit ihr spricht – und ebenso wenig, ob es sich um eine "normale" Berührung an ihrem Po handle oder um eine "druckintensive". Was eine normale Berührung am Po durch den Chef sein soll? "Das frage ich mich noch heute", sagt Hanna trocken.

"Ich bekam im Urteil ständig zu hören, dass ich mich geirrt hätte. Das war demütigend", erzählt die heute 32-jährige Juristin vom Prozess. "Man geht nicht vor Gericht, weil man das große Geld erwartet. Das gibt es nicht. Man will von einer objektiven Instanz hören: Ich glaube dir, es ist passiert, und es war falsch." Stattdessen hatte Hanna das Gefühl, alles, was sie sagt, hätte absolut kein Gewicht.

Eine Bestätigung, dass sie sich das alles nicht einbildet, bekam Hanna durch ein feministisches Projekt. Die umfassende Broschüre "It's Not That Grey" fasst zahlreiche Erfahrungen von Frauen zusammen – und sie ähneln sich bezüglich sexueller Belästigung und Gewalt frappant. Den Autorinnen Sara Hassan und Juliette Sanchez-Lambert gelang damit eine Systematisierung von etwas, wovon viele Frauen meinen, es passiert nur ihnen, denken, es wäre eigentlich ja etwas anderes als sexuelle Belästigung. Oder zumindest keine "richtige" sexuelle Belästigung. "Wenn es einen selbst betrifft, hat man plötzlich kein Wort dafür, auch wenn man wie ich an Feminismus- und Diskriminierungsthemen interessiert ist", sagt Hanna.

Entwürdigender Gang vor Gericht

Die Klage wegen sexueller Belästigung gewann Hanna nicht, kurioserweise aber die wegen der rechtswidrigen Kündigung und der Dienstfreistellung, die ja aufgrund der "Zurückweisung" durch ihren Chef ausgesprochen wurde – trotzdem will man ihr die sexuelle Belästigung vor Gericht nicht glauben, obwohl selbst der mit Hannas Fall befasste Richter es für unwahrscheinlich hält, dass Hanna lügt, wie die Urteilsbegründung zeigt.

Das Gleichbehandlungsgesetz sanktioniert sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz unabhängig von der Motivation des Täters. Ob der Chef grapscht, weil er mit der Arbeitnehmerin intim werden will oder sie damit demütigen möchte, ist also irrelevant für die Frage, ob es sich um sexuelle Belästigung handelt.

Der Richter sieht es anders. Für ihn muss eine Absicht zur Demütigung bestehen, anders sei kaum von einer sexuellen Belästigung auszugehen. Das Problem mit dieser Auffassung: "Das widerspricht nicht nur dem Gesetz, sondern das hilft auch genau jenen Chefs, die sich anmaßen, ihr 'Interesse' auch noch als Ehre für die Arbeitnehmerin zu interpretieren. Die Demütigung ist nicht das, was der Chef beabsichtigen muss, sondern das, was die Arbeitnehmerin danach fühlt", meint Hanna. Außerdem: "Beweisen lässt sich eine solche Absicht natürlich de facto auch nicht."

Selbst für eine ausgebildete Juristin war der Gang vor Gericht ein mühsamer und entwürdigender. Dabei wäre es gar nicht so schwer, dass Betroffene von sexueller Belästigung, aber auch alle anderen Rechtsschutzsuchenden leichter zu ihrem Recht kommen, ist Hanna überzeugt. "Man ist einem Richter mit seinen Weltanschauungen völlig ausgeliefert", die Erstrichter hätten zu viel Macht, für die es zu wenig Kontrolle gebe, kritisiert Hanna. Die erste Instanz stellt durch ihre Beweiswürdigung den Sachverhalt fest, "und Rechtsmittel, die sich gegen diese Beweiswürdigung richten, sind nahezu immer chancenlos".

Institutionelle Folgenlosigkeit

Das liege nicht nur an der ausgeprägten Tendenz der Berufungsrichter, Urteile nur im Ausnahmefall korrigieren zu wollen, sondern auch an der derzeit schwierigen Überprüfbarkeit des erstinstanzlichen Verfahrens, sagt Hanna. Die zweite Instanz hat nur Protokolle der gerichtlichen Aussagen zur Verfügung. Wie etwas gesagt wurde, die Information fehlt in den Protokollen völlig. "Ich wäre dafür, dass man Verhandlungen für das Berufungsgericht audiovisuell aufzeichnet", fordert Hanna. Das hätte zudem eine verhaltenssteuernde Wirkung für alle, auch für die Richterinnen und Richter, die das Verfahren tendenziös führen. So eine Aufzeichnung würde viel bringen und fast nichts kosten, sagt Hanna. "Diese institutionelle Folgenlosigkeit, das systematische Belächeln und Mundtotmachen von Betroffenen, die schon einmal entwürdigt wurden, das geht uns alle an."

Hanna ging gegen das Urteil in Berufung. In den nächsten Monaten wird das Oberlandesgericht Wien über ihren Fall entscheiden. Doch egal, wie es ausgeht: Schweigen ist für Hanna keine Option mehr. (Beate Hausbichler, 12.11.2019)