Der Joker gilt als Symbol- und Identifikationsfigur für den sprachlosen Mann, dem das Lachen sprichwörtlich vergangen ist.

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Édouard Louis, "Im Herzen der Gewalt". 20 Euro / 224 Seiten. Fischer-Verlag, 2017

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Am Morgen nach der Vergewaltigung kommt der Hass: "Ich konnte kein Lächeln oder Lachen mehr ertragen, […] es hallte für den restlichen Tag in meinem Schädel wider, saß in meinem Kopf fest, in meinen Augen, unter meinen Lippen – als wäre das Lachen gegen mich gerichtet."

Wenig später in der Notaufnahme bricht es aus ihm heraus: "Ich bekam einen regelrechten Lachanfall, mein lautes Lachen hallte in dem leeren Wartesaal wider, [...] ein fürchterliches Lachen, das zwischen den Wänden schallte, ich krümmte mich vor Lachen, hielt mir den Bauch, bekam keine Luft mehr […]". Obwohl sein Buch "Im Herzen der Gewalt" als Roman verkauft wird, betont Édouard Louis, dass es keine Fiktion enthält ("Dans ce livre, il n’y a pas une ligne de fiction"). Das Würgen, die Waffe, die Wunden – nichts davon ist erfunden. Fünf Jahre später sitzt Louis in einer vollen Kirche im Westend von London und spricht offenherzig über sein neues Buch. Die Spanne seiner Emotionen ist bemerkenswert. Geistreiche und wache Worte sprudeln aus ihm heraus. Er erzählt von Armut, Homophobie und sozialer Ausgrenzung. Wirkt dabei wach, verletzlich, frohgemut.

Maskiert und radikalisiert

Das furchterregende und misshandelte Lachen aber, dass Louis in seinem Buch schildert, ist andernorts dieser Tage wieder sehr präsent. Aktuell schallt und hallt es durch die gekachelten Metro-Stationen im neuen Film "Joker" von Todd Phillips. Schon als Kind wird Arthur Fleck – der spätere Joker – geschlagen und missbraucht. Einst fand man ihn an einen verdreckten Heizkörper gebunden, blaue Flecken überall, unterernährt, schweres Trauma am Kopf. Die Hirnschädigung führte dazu, dass er fortan unter heftigen, unkontrollierbaren Lachausbrüchen litt.

Im Unterschied zu Édouard Louis hat Fleck das Ruder leider nicht herumreißen können und sich Jahre später maskiert und radikalisiert. Mordend und lachend zieht der völlig kaputte Arthur Fleck (Joaquin Phoenix) durch Gotham. Das Sprechen hat er endgültig aufgegeben. Tausende – nicht minder verschwiegene – Männer mit Clownsmasken (Malevolent Masked Men Trope) bejubeln ratlos seine blutig grinsende Fratze. Sie huldigen der künftigen Ikone des verstummten und gewalttätigen Mannes. Bis heute gilt der Joker als Symbol- und Identifikationsfigur für den sprachlosen Mann, dem das Lachen sprichwörtlich vergangen ist. Der nicht weiß, wohin mit seiner Wut, keine Worte hat für Schmerz und Lust, für Einsamkeit, Versagen, Überforderung.

Ohne Vater, ohne "Ich liebe dich"

Édouard Louis hingegen hat wieder sprechen gelernt und erzählt in seinem dritten Buch ("Wer hat meinen Vater umgebracht?", 2018) von den vielen nichts-sagenden Männern aus dem Milieu seines Vaters, die ebenfalls hinter der Maske ihrer Männlichkeit gefangen sind. Auf der Bühne in London sagt er: "Und ihre Männlichkeit bedeutete, niemals 'Ich liebe dich!' zu sagen, niemals Gefühle auszudrücken. So sagte mir mein Vater nie 'Ich liebe dich!'. Es sei denn, er war betrunken."

Derweil hat Rich Daddy Thomas Wayne dafür gesorgt, dass auch Bruce und Arthur (Batman und Joker) ohne Vater aufwachsen. Ohne "Ich liebe dich!". Ohne jede Chance auf eine emotional integre, positive Männlichkeit. Vielleicht sind sie Brüder, vielleicht nicht. Es hätte harmonisch werden können! Harmonie aber lässt sich in der Monokultur einer männlich dominierten Filmindustrie nicht annähernd so gewinnbringend verfilmen wie die bewährteste Action-, Gewalt-, Helden-, Retter-, Rache- oder Porno-Fantasie.

Die räumliche und emotionale Abwesenheit von Vätern sowie deren enorme Sprachlosigkeit zählen nicht von ungefähr zu den Top-Tropen der westlichen Kulturgeschichte. Von der Sehnsucht nach Gottvater im Himmel über Darth Vader im Todesstern bis zu den neuen Patriarchen in Politik und Wirtschaft: Traditionelle Männlichkeiten inszenieren sich seit jeher als extrem überarbeitet, emotional verkümmert und maßlos mächtig.

Und nach wie vor wachsen die meisten Kinder ohne präsente, positive Väter auf. Männer, die ihre Schweigebünde bereits hinter sich gelassen und zu sprechen begonnen haben, sind selten. Nicht einmal 2,5 Prozent aller Väter nehmen in Deutschland mehr als zwölf Monate Elternzeit. Nicht selten mündet die stille Faszination ihrer Söhne für Shooter-Ästhetik und Verschwörungstheorien deshalb in offenem Antifeminismus, Antisemitismus und Anti-Alles.

Männliche Show-Realität

Zwar bleiben die meisten Gewaltbegeisterten begeistert daheim und tragen den Frust in ihr soziales Umfeld und ihre Beziehung. Bisweilen aber verlässt ein junger Online-Joker den anonymen Gewaltsumpf männlicher Schweigekulturen, druckt sich ein paar Waffen aus, zieht sich die Gopro über und geht auf Livestream via Internetforen wie 4chan, 8chan und Meguca. Das "Lachen der Täter", wie es der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit formuliert, bricht dann oft als unmittelbare Form der Gewaltabfuhr aus ihm heraus. Breivik lief laut lachend über die Insel Utøya, während er 69 Menschen erschoss. Im Gerichtssaal grinste er weiter. Und wir sind es so leid! Wollen nicht länger unter Beschuss geraten, passiv und hilflos, sondern verstehen, wie das vor sich geht, die stille Radikalisierung der Boys in den dunklen Foren und vor ihren Konsolen. Aus gutem Grund also ringt die heftige Debatte zum neuen "Joker" um genau diese Frage nach der männlichen Show-Realität: Wie viel Fiktion verträgt unsere Wirklichkeit?

Zum Ersten, weil uns langsam dämmert, wie machtlos wir gegen bald 80 Jahre alte Brachialfantasien wie "Batman" und "Joker" sind. Der globale Impact dieser Bildstrecken auf Bewusstsein, Identität und Sprache adoleszenter Männlichkeiten ist gewaltig. Mit bald einer Milliarde Dollar gilt Todds "Joker" als erfolgreichster nicht jugendfreier Film aller Zeiten. Dicht gefolgt von "Deadpool", "Wolverine" und "Matrix".

Zum Zweiten, weil der Body-Count realer Shootings die Zahl der inszenierten und virtuellen Kills – John Wick einmal ausgenommen – heute weit hinter sich lässt. Keine deutschsprachige "Joker"-Rezension, die nicht den Bezug zum Attentäter von Halle herstellt und sich fragt, ob sich die Gamification – ergo Infantilisierung – unseres Alltags noch irgendwie bremsen ließe. Oder, wie es die wohl einflussreichste Frau der Gamingbranche, Kate Edwards, kürzlich in einem Interview formulierte: "Im Prinzip steht die ganze Weltgesellschaft vor der Frage, wie wir das Zusammenspiel zwischen der echten und der digitalen Welt zukünftig regeln wollen."

Und zum Dritten, weil dank 100 Jahren Feminismus und #MeToo jetzt endlich das Tabu vom Tisch ist, kritisch über Männlichkeit zu sprechen. Langsam – viel zu langsam – beteiligen sich auch Männer an der Diskussion über toxische Männlichkeit. Und nicht wenige bezeugen ihren Überdruss an männlichen Monokulturen.

Offensiv in die Opferrolle

Wenn der Leidensweg vaterloser Söhne in Filmen und Serien aktuell also als Gewalt- und Missbrauchskarriere inszeniert wird, dann vor allem deshalb, um offensiv in die Opferrolle zu gehen. Nur so lassen sich die finalen Mordexzesse noch legitimieren. DCs neuer Opfer-Joker verkörpert ein männlich dominiertes Phantasy-Business – 90 Prozent aller Drehbücher werden von Männern verfasst –, dass nicht einmal auf die Idee kommt, es wäre jemals denkbar, einfach damit aufzuhören, derart stumpfe und stumme Männermonotonie in einen ohnehin männlich dominierten Markt zu drücken.

Wie viel Schmerz kann und muss ein Mann ertragen? Sein Leben lang wird der Joker missbraucht, verprügelt, verlacht und gedemütigt. Er ist krank, traumatisiert, zwanghaft, deformiert, entstellt, verrückt, humorlos, arbeitslos, vaterlos, ungeliebt, arm, dumm und einsam. Und dennoch ist diese lebenslange Qual nicht etwa deshalb so verstörend, weil sie so unfassbar tragisch ist oder weil Joaquin Phoenix ein toller Schauspieler wäre.

Sondern weil der hypermaskuline Extremismus dieser Opferinszenierung auf der repräsentativen Ebene nichts Geringeres als das größte "Fuck you!" an die #MeToo-Realität 2019 darstellt, das man sich vorstellen kann. Genau deshalb fühlt sich der Film so unerträglich selbstmitleidig und falsch an. Um die strukturelle Misogynie in Hollywood unmissverständlich zu feiern und zu glorifizieren, ermordet der Joker nicht nur seine Mutter, sondern final auch noch seine Psychiaterin. Die Message der Film- und Serienindustrie an die Frauen dieser Welt lautet: Jetzt erst recht!

Es ist, als würden Männer weltweit gerade unzählige rote Pillen schlucken, um aus der MeToo-Matrix auszusteigen. Ohne zu erkennen, dass Neo sich keineswegs für die Wirklichkeit entschieden hat, sondern wieder nur eine weitere dystopische Männerfantasie serviert bekommt. Um diesen lähmenden Loop aus Fake versus Truth zu durchbrechen, müssen wir verstehen, dass unsere Fantasie nicht so frei und grenzenlos ist, wie wir gerne glauben wollen. Ganz im Gegenteil, sie ist genauso männlich dominiert und strukturiert wie die jeweilige Gesellschaft, die sie hervorbringt.

Die größte aller Superkräfte: Sprechen

Laut dem Soziologen Andreas Reckwitz leben wir in einer Gesellschaft der Singularitäten. Übermännliche Fähigkeiten zählen damit zu den wirkmächtigsten Fantasien der singulären Spätmoderne. Nichts ist besonderer und einzigartiger als Superkräfte. Supermänner verkörpern gewissermaßen die Perversion der Singularität. Und wie es scheint, bekommen wir mit dem neuen "Joker" gleich zwei neue Superkräfte spendiert: Selbstmitleid und Schmerzintoleranz.

Die größte aller Superkräfte, um diesem Irrsinn entgegenzutreten, findet sich glücklicherweise nicht auf der Leinwand, sondern in jedem Einzelnen von uns: die Fähigkeit zum Sprechen. Wir müssen die offene und lautstarke Kritik an Männern und Männlichkeiten dringend beschleunigen! Seid ihr bereit, Privilegien abzugeben? Männerbünde aufzubrechen? Euch Frauen*, Inter- und Trans-Personen zum Vorbild zu nehmen?

Lupita Nyong’o schrieb 2017 in der "New York Times" darüber, weshalb Harvey Weinstein niemals eine zweite Chance verdient hat. Sie schließt mit den Worten: "I speak up to contribute to the end of the conspiracy of silence." Männliche Schweigekulturen haben sich gegen die Gesellschaft verschworen. Es ist höchste Zeit, sie aufzubrechen, um Männer und Männlichkeiten zur Sprache und zur Verantwortung zu bringen.

Lesen wir die Worte von Bruce Wayne in "The Dark Knight" deshalb nicht länger als Helden-Statement, sondern als letzte Warnung vor seiner hochtoxischen Männlichkeit und seiner infantilen Ignoranz, zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden zu wollen: "As a man, I’m flesh and blood. I can be ignored. I can be destroyed. But as a symbol – as a symbol, I can be incorruptible. I can be everlasting." (Christoph May, 15.11.2019)