Frage: Boliviens langjähriger Präsident Evo Morales hat das Land verlassen und ist in seinem mexikanischen Exil angekommen. Wurde die Welt Zeuge eines Putsches?

Antwort: Morales sieht das wenig überraschend so – und er bekommt Schützenhilfe von seinen Verbündeten in der Region, Venezuelas Machthaber Nicolás Maduro etwa oder Miguel Díaz-Canel Bermúdez, Kubas Staatschef. Auch das russische Außenministerium geißelte den Sturz Morales' als "orchestrierten Putsch", der britische Labour-Chef Jeremy Corbyn bedauerte den Druck des Militärs auf den "fortschrittlichen" Präsidenten. Mexiko, ebenfalls von einer linken Regierung geführt, hatte dem zuvor zurückgetretenen und bedrängten Morales Asyl angeboten – was dieser annahm und in Aussicht stellte, er werde bald schon mit "mehr Energie" zurückkommen.

Die Opposition, deren Proteste letztlich zu dem Rücktritt geführt hatten, wehrt sich – ebenso einleuchtend – gegen diese Darstellung: Für sie stellen die Ereignisse in Bolivien einen Kampf für Demokratie dar; erst die Wahlfälschung durch den Präsidenten habe zur Eskalation geführt. Dass die Wahlergebnisse manipuliert worden sind, hat die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) Ende vergangener Woche festgestellt und eine Neuwahl empfohlen. Sowohl Morales-Gegner als auch seine Anhänger trugen den Konflikt daraufhin teilweise gewalttätig auf den Straßen der großen Städte aus.

Der gestürzte Präsident in einem Flugzeug der mexikanischen Luftwaffe.
Foto: APA/AFP/Mexican Foreign Ministry

Frage: Wer ist Evo Morales eigentlich?

Antwort: Sein Aufstieg ins Präsidentenamt 2006 war Teil einer linken Blüte in Lateinamerika, so wie Venezuelas autoritärer Präsident Hugo Chávez, Rafael Correa in Ecuador und Lula da Silva in Brasilien galt auch Boliviens erster indigener Präsident als eine Schlüsselfigur der globalen Linken – und als ambitionierter Reformer in dem bitterarmen Andenstaat. Fast eineinhalb Jahrzehnte hielt Morales sich an der Macht, auch deshalb, so halten ihm seine Anhänger zugute, weil sich der ehemalige Kokabauern-Gewerkschafter stets für die Belange der zuvor marginalisierten Indigenen eingesetzt hat. Seine Regierung brachte von Beginn an Sozialprogramme für die arme Landbevölkerung auf den Weg, baute die Infrastruktur aus und sorgte für eine gerechtere Verteilung der bolivianischen Erdgaseinkünfte.

Seine Gegner, die nun die Oberhand gewannen, halten ihm hingegen zu Recht vor, zu lange an der Macht festgehalten zu haben: Ihren Ursprung haben die Unruhen, die Bolivien seit Oktober erschüttern, schließlich in Morales' Versuch, eine vierte Amtszeit zu erringen, die Wahlen zu fälschen und sich schließlich zum Sieger zu erklären. Gerade weil er sich zeit seiner 40-jährigen politischen Karriere für die Interessen der Kokabauern eingesetzt hat, zog er sich aber schon zuvor die Missgunst der traditionell weißen Elite des Landes zu. Auch rassistische Motive spielen bei der Abneigung gegen den Präsidenten aus dem südbolivianischen Volk der Aymara eine Rolle.

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Kampfflugzeug über La Paz.
Foto: REUTERS/Henry Romero

Frage: Wie kam es zu dem raschen Abstieg von einer linken Hoffnungsfigur zu einem Verjagten?

Antwort: Während sich Bolivien unter Morales von Südamerikas Armenhaus zu einem dynamischen Wirtschaftsstandort mit steigenden Löhnen und sinkender Armut entwickelte, regierte der Präsident mit immer härterer Hand über Widerstände hinweg. Es kam zu Festnahmen politischer Gegner, politische Gremien wurden zusehends mit Günstlingen des Präsidenten besetzt. Zweimal gelang dem Präsidenten trotz oder gerade wegen dieser Entwicklung spielend leicht die Wiederwahl.

Als 2016 – Morales war damals schon zehn Jahre im Amt – die Mehrheit der Bolivianer in einem rechtlich bindenden Referendum zu dem Schluss kam, dass es genug sei und eine weitere Amtszeit eine zu viel, bemühte Morales das Verfassungsgericht. Dort befand man, dass ein Wiederantrittsverbot die Menschenrechte des Präsidenten hintertreibe – und gestand Morales somit jedenfalls theoretisch weitere Jahre an der Macht zu.

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Das Militär patrouilliert in wichtigen Städten des Landes.
Foto: REUTERS/Manuel Claure

Frage: Wie kam es dann zur Eskalation?

Antwort: Als die Wahlbehörde am 20. Oktober für 24 Stunden die Auszählung der Stimmen stoppte und Morales danach ohne weitere Erklärung zum eindeutigen Sieger ausrief, lief das Fass über: Massenproteste in der Hauptstadt La Paz und anderen Städten folgten, Polizisten begannen mit den Worten "Wir werden auf der Seite des Volkes sein, nicht bei den Generälen" zu meutern. Schließlich sprach Boliviens höchster Militär, General Williams Kaliman Romero, am Sonntag ein Machtwort, dem sich Morales nach 13 Jahren an der Macht nicht mehr entziehen konnte. Der Präsident solle zurücktreten, um den Frieden im Land wiederherzustellen, hatte der General ultimativ gefordert.

Frage: Wie haben die USA auf den Sturz von Evo Morales reagiert?

Antwort: Während die demokratische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez von einem "Staatsstreich" sprach und konstatierte, dass das bolivianische Volk statt einer "gewaltsamen Machtübernahme" viel mehr "freie, faire und friedliche Wahlen" verdiene, begrüßte Präsident Donald Trump die Morales' Ausreise: "Die Vereinigten Staaten applaudieren dem bolivianischen Volk für seinen Wunsch nach Freiheit und dem bolivianischen Militär für sein Festhalten an seinem Eid."

Frage: Wie geht es jetzt weiter?

Antwort: Nach Morales' Flucht ins mexikanische Exil findet sich Bolivien jetzt erst recht mitten in einer politischen Krise wieder. Nachdem viele der laut Verfassung für eine Interimsregierung vorgesehenen Politiker aus Morales' Partei Bewegung zum Sozialismus so wie ihr Chef zurückgetreten sind, soll die Vizepräsidentin des Parlaments, Jeanine Áñez, vorerst an die Staatsspitze treten. Sie versprach am Montag in einer Fernsehansprache unter Tränen einen friedlichen Übergang und eine baldige Rückkehr zur Stabilität.

So verbrachte der Präsident die erste Nacht nach seiner Entmachtung.

Weil viele Morales-Anhänger im Parlament angekündigt haben, die geplante Sitzung zur Vereidigung der Übergangspräsidentin zu boykottieren, ist aber fraglich, ob Bolivien am Tag eins nach Evo Morales den Schritt in eine verfassungsgemäße Übergangsperiode bewältigt. (Florian Niederndorfer, 12.11.2019)