Minutenlang schlägt Mihai auf der kleinen Matratze Purzelbäume. Rollt nach vor und wieder zurück. Vor kurzem habe er gelernt, eins und zwei zu schreiben, sagt Mutter Iuliana, während sie mit stolzem Blick das Zappeln ihres Kindes verfolgt. Mihai kichert, als er mit seinen Füßen gegen die mit Teppichen behangene Wand knallt.

Mihai soll nächstes Jahr die Schule besuchen.
Foto: vanessa gaigg

Der fünfjährige Mihai weiß noch nicht, dass seine Eltern all ihre Hoffnung in ihn und seinen kleinen Bruder Edi setzen. Im Gegensatz zu ihnen sollen sie Lesen und Schreiben lernen, regelmäßig Geld verdienen und es so rausschaffen aus dem Elend der Roma-Siedlung am Rand von Ploiesti, einer 230.000-Einwohner-Stadt eine gute Stunde von der Hauptstadt Bukarest entfernt. Würde sich Mihai zweimal hintereinander überschlagen, wäre er vom einen an das andere Ende seines Zuhauses gelangt.

Massive Unterschiede bei Bildung

Die Probleme beginnen bereits damit, dass Roma-Kinder keinen gleichberechtigten Zugang zu Bildung haben. Der Unterschied zwischen Roma-Kindern und Nicht-Roma-Kindern ist enorm: Laut einer Befragung der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte in Rumänien haben etwa 87 Prozent aller Kinder zwischen sechs und 15 Jahren vorschulische Erfahrungen – besuchten also etwa einen Kindergarten.

Bei Roma-Kindern liegt der Prozentsatz bei 55. Das wirkt sich dann auf die späteren Jahre aus: 14 Prozent aller Roma-Kinder im schulpflichtigen Alter besuchen keine Schule. Bei Nicht-Roma-Kindern sind es vier Prozent. 31 Prozent der erwachsenen Roma geben an, nicht lesen und schreiben zu können. So wie Iuliana Raducano und Valentin Beterez.

Iuliana Raducano mit Sohn Mihai, Valentin Beterez mit dessen Bruder Edi.
Foto: vanessa gaigg

Sammeln von Flaschen als Lebensunterhalt

Der Zufahrtsweg zu den Hütten ist schmal und uneben. Streunende Hunde schnüffeln im Müll, der überall am Wegesrand liegt. Der Geruch von verbranntem Plastik liegt in der Luft. Die Polizei nennt die Gegend aus Spaß "Dallas", weil hier früher eine Erdgasfabrik stand. Ein paar Dutzend Hütten befinden sich in dieser Siedlung, an deren Anfang jene von Iuliana und Valentin steht.

Es ist ein aus mehreren Türen behelfsmäßig zusammengezimmerter Schuppen, in dem die Familie das ganze Jahr über haust. Es gibt keine Heizung. Wasser holt die Familie aus einem Brunnen in einem nahegelegenen Park. Strom kommt aus einem Generator, und auch nur, wenn genügend Geld für Benzin da ist.

Müll prägt das Straßenbild.
Foto: vanessa gaigg

Meistens ist es das nicht. Derzeit können sie sich aber ohnehin die Reparatur nicht leisten. An einem guten Tag verdienen die beiden umgerechnet acht Euro – Geld, das sie sich durch das Sammeln von Plastikflaschen, die sie bei Recyclingstellen abgeben, verdienen. Es ist eine mühselige Angelegenheit. Ein Kilo Plastikflaschen ist ungefähr einen Euro wert. Zusätzlich erhalten sie Familienbeihilfe in der Höhe von 35 Euro pro Kind. Sozialarbeiter haben dafür gesorgt, dass sie diese bekommen.

Keine Genehmigung

Seit zwei Jahren erhält die Familie Unterstützung der Sozialorganisation Concordia, deren Sozialarbeiter regelmäßig in der Siedlung vorbeikommen. "Wir schauen, dass die Kinder in die Schule gehen, und versuchen, die Eltern beim Finden einer Arbeit zu unterstützen", sagt Valentina Ion. Oft bringen sie auch einfach das Notwendigste vorbei: Kleidung oder Lebensmittel "Die Kinder sind oft auf sich alleine gestellt", sagt Ion, "und die Väter im Gefängnis." Sechs solcher Siedlungen gibt es in Ploiesti.

Damit sich die Chance erhöht, dass die Kinder die Schule nicht irgendwann abbrechen, bietet die Organisation auch Tageszentren an, in denen die Kinder betreut werden, eine warme Mahlzeit bekommen und lernen können. Die Warteliste ist lang.

Alltag in "Dallas".
Foto: vanessa gaigg

Gehen die Kinder einmal in die Schule oder in den Kindergarten, werden sie dort oft ausgegrenzt. Neben Vorurteilen haftet ihnen oft auch ein beißender Geruch an, der sich durch das Heizen mit Holz in ihre Kleidung und Haare gefressen hat. Wenn die Kinder danach riechen, will niemand neben ihnen sitzen.

Nur weil sie so klein ist, stößt Iuliana nicht mit ihrem Kopf an die Decke der Hütte, wenn sie aufrecht steht. "Wir wünschen uns eine Wohnung", sagt sie. Früher hat sie auf einem Feld im Freien oder am Bahnhof geschlafen. Doch im Winter wird es auch in dieser Hütte eiskalt. Größere Angst als der Winter bereitet ihnen aber die Vermutung, dass die Behörden die Siedlung jederzeit auflösen könnten. Die Angst besteht, auch wenn es derzeit keine Probleme mit der Polizei gibt, die regelmäßig vorbeischaut. Denn für keinen der Schuppen gibt es eine offizielle Genehmigung irgendeiner Art. "Wir würden nicht wissen, wohin", sagt Valentin.

Bis vor kurzem lag er einen Monat lang krank im Bett und konnte nicht arbeiten. An den Wänden hängen viele Bilder, auf manchen ist eine Zeichnung Jesus’, auf anderen ein Abbild Marias zu sehen. Manchmal, sagt Valentin, bete er zu Gott. (Vanessa Gaigg, 12.12.2019)