Mit ihren kleinen Pfleglingen hat es Andrea Lienhard nicht leicht. Insbesondere deren Neigung zum Kannibalismus macht ihr zu schaffen. Als Verantwortliche für eine stattliche Mehlwurmzucht muss die junge Zoologin darauf achten, dass die erwachsenen Käfer nicht allzu viele ihrer eigenen Nachkommen verzehren.

Da es vor allem die Männchen sind, die sich über die Eier, Larven und Puppen hermachen, müssen sie aussortiert werden. "Bei den erwachsenen Käfern lassen sich Männlein und Weiblein allerdings kaum unterscheiden", sagt Lienhard.

Wie die Larven des Mehlkäfers zu schmackhaften Lebensmitteln verarbeitet werden können, erproben Forscher in Graz.
Foto: FH Joanneum

"Deshalb trennen wir die Tiere bereits im Puppenstadium." Und weil das bei so vielen kleinen Tierchen ein enormer Aufwand ist, wird zurzeit ein Roboter für diese Aufgabe angelernt.

Nachhaltige Proteinquelle

Dass im kürzlich eröffneten Food Processing Lab an der FH Joanneum in Graz ausgerechnet eine Mehlwurmzucht betrieben wird, hat mit einem ganz speziellen Forschungsvorhaben zu tun.

In diesem von der Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) mit einer Million Euro geförderten Projekt wird nämlich erforscht, wie man tierisches Protein nachhaltig und effizient aus Insekten gewinnen kann. Bislang bezieht der Mensch Proteine hauptsächlich aus dem Fleisch von Rind, Schwein, Huhn und Co, was bekanntlich einen desaströsen ökologischen Fußabdruck hinterlässt.

Weltweit wird daher intensiv an der Nutzung von Insekten als Proteinlieferanten geforscht. In Graz konzentriert man sich auf den Mehlwurm, "weil man ihn nachhaltig in großen Mengen erzeugen und zudem auf bereits vorhandenes Wissen aufbauen kann", sagt Projektleiter Simon Berner.

Ersatz für Fischmehl

Im neuen, 920 Quadratmeter großen Labor steht nun die nötige Infrastruktur bereit, um die gesamte Wertschöpfungskette vom optimalen Futter für Mehlwürmer über deren sichere Vermehrung und Aufzucht bis zu ihrer Verarbeitung zu erforschen. "Wir werden auch die Anlagen und Produktionsprozesse entwickeln, die für die Herstellung eines neuen Lebens- und Futtermittels erforderlich sind", sagt Berner.

Der Mehlwurm – der mit seinen sechs Beinchen übrigens gar kein Wurm ist, sondern die Larve des Mehlkäfers – soll also nicht nur den Menschen schmackhaft gemacht werden. Als ökologisch verträgliches Fischfutter könnte die Mehlkäferlarve künftig das problematische Fischmehl ersetzen.

Damit das neue Nahrungsangebot tatsächlich eine nachhaltige Alternative ist, muss bereits beim Mehlwurmfutter auf Qualität und Regionalität geachtet werden. Außerdem sollte es in großen Mengen vorkommen, leicht zu lagern und billig, aber kein Abfall sein. Auf ihrer Suche nach dem optimalen Substrat haben die Grazer Forscher schon einiges ausprobiert.

"Gute Erfahrungen haben wir etwa mit Malzkeimpellets gemacht, die bei der Malzherstellung für Brauereien und Bäckereien anfallen", sagt Studiengangsleiter Johannes Haas. "Auch Pflanzen wie Brennnesseln oder invasive Neophyten werden getestet."

Die Auswirkungen des jeweiligen Futters werden über mehrere Larvengenerationen beobachtet. "Wir schauen uns an, wie sich die Ernährung langfristig etwa auf das Paarungsverhalten oder das Eierlegen auswirkt", sagt Berner.

Mehl aus gemahlenen Mehlwürmern

Bis zu 600 Eier kann ein Mehlkäferweibchen im Laufe seines höchstens sechsmonatigen Lebens legen. "Nach etwa einer Woche schlüpfen die Larven, die sich dann je nach Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Futter schneller oder langsamer verpuppen", erklärt Lienhard.

Bis es so weit ist, fahren sie zehn- bis 20-mal aus der Haut, wenn ihnen diese zu eng wird. "Bei 27 Grad und 75 Prozent Luftfeuchtigkeit dauert die Puppenphase sieben Tage, dann schlüpfen die adulten Käfer."

Mehlkäferlarven können auf unterschiedlichste Weise verarbeitet werden: "Man kann sie als Ganzes trocknen oder auch ihre Inhaltsstoffe wie Chitin, Fettsäuren und Proteine etc. voneinander separieren", sagt Berner.

Mehl aus getrockneten und vermahlenen Mehlwürmern lässt sich relativ problemlos herstellen. Auch ein spezielles Öl aus ungesättigten Fettsäuren der Larven wäre denkbar. Was für den Menschen gesundheitsförderlich ist, kann im Fischfutter allerdings stören.

"Fische vertragen Mehlwürmer zwar gut, aber der Fettgehalt ist für ihre Bedürfnisse noch zu hoch." Wie man dieses Problem am effizientesten lösen könnte, wird mit etlichen anderen offenen Fragen Experten und Studierende in den nächsten Jahren beschäftigen.

Die Larven des Mehlkäfers können Tier und Mensch als Proteinquelle dienen.
Foto: FH Joanneum

Um die kulinarische Attraktivität der bislang wenig geschätzten Insekten zu steigern, wird auch mit unterschiedlichen Geschmacksrichtungen experimentiert. "Wir geben den erntereifen Larven anstelle des normalen Substrats einige Tage ein Spezialfutter wie Ingwer, Zimt, Rosmarin oder Chili und testen, ob und wie stark sie diesen Geschmack annehmen", berichtet Lienhard.

Und wie schmecken diese Gourmetmehlwürmer? "Die Chili-Larven sind wirklich scharf", lacht sie. Bevor man schmackhafte Schoko-Vanille-Mehlwurmriegel oder gesundes Larven-Öl in den heimischen Supermarktregalen findet, muss sich allerdings erst noch die österreichische Gesetzgebung ändern. "Noch dürfen verarbeitete Insekten hierzulande nicht in Verkehr gebracht werden", bedauert Berner. "In den Niederlanden oder Belgien ist man da schon viel weiter".

Träge Essgewohnheiten

Wahrscheinlich aber werden sich die Gesetze schneller an die neuen Erfordernisse und Möglichkeiten anpassen als die Essgewohnheiten der Österreicher. Denn was seit Generationen als ekelig wahrgenommen wird, mutiert in den Köpfen wohl nur langsam zum Leckerbissen. Trotz garantierter Nachhaltigkeit und geschmacklicher Raffinessen.

Wie dem auch sei, mit dem von Land Steiermark und Stadt Graz geförderten Food Processing Lab als zentralem Bestandteil der Studiengänge "Nachhaltiges Lebensmittelmanagement" und "Lebensmittel: Produkt- und Prozessentwicklung" wird die FH Joanneum künftig nicht nur die angewandte Mehlwurmforschung vorantreiben, sondern auch bei der Geburt vieler anderer neuer Lebensmittel mithelfen.

Vielleicht nicht alle so spektakulär wie die Hauptfigur des Einstandsprojekts – aber wer weiß schon, was in Zukunft noch auf unseren Tellern landen wird. (Doris Griesser, 17.11.2019)