Ahmed* hat zwei Jahre Zeit. Zwei Jahre, um die wegen des Kriegs versäumte Volksschulzeit nachzuholen. Er hat zwei Jahre den Status als außerordentlicher Schüler, um Schreiben, Lesen und Rechnen zu lernen. Und das alles in einer neuen Sprache, in einem fremden Umfeld. In einem Umfeld und in einem System, wo zwar viele ihr Bestes versuchen, das aber durch starre Vorgaben keine Rücksicht auf die Lebensumstände und das Erlebte von Ahmed nimmt. Zwei Jahre für Ahmed und seine Lehrerinnen und Lehrer also, das beinahe Unmögliche aber absolut Notwendige zu schaffen.  

Aleppo und Appelhof 

Ahmed steht, etwas erstaunt, aber begeistert auf einer großen Wiese im Schatten der Mürzsteger Alpen. Alles ist neu für ihn, denn erst vor zwei Monaten, im Juli 2017, ist er nach Österreich gekommen. Ahmed ist außerordentlicher Schüler. Das sind Kinder, die neu im österreichischen Schulsystem sind und aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse maximal zwei Jahre nicht benotet werden.

Von Neugier gepackt erkundet Ahmed den Streichelzoo, den Spielplatz, die Umgebung und genießt die Ruhe. Ruhe, die er in seinem kurzen Leben noch nicht oft genießen durfte. Ahmeds Schwester, Dana*, ist auch mit auf den Kennenlerntagen. Sie ist schon zwei Jahre in Österreich und spricht einigermaßen gut Deutsch. Beim Abendessen erzählt sie, warum Ahmed und ihre Eltern zwei Jahre nach ihr kamen. Sie mussten das Mittelmeer in verschiedenen Booten überqueren. Das Boot von Ahmed und ihren Eltern ist untergegangen und sie müssten zurück in die Türkei. Nur sie konnte mit ihrer Tante weiter nach Europa und Österreich. Später frage ich Ahmed, ob er in Syrien, der Türkei oder Griechenland während dieser Jahre der Flucht in der Schule war. 

"Ja. In Aleppo, zwei Tage. Dann Schule kaputt. Nach Türkei. In Türkei und Griechenland nur bissi Schule. Nur zwei oder drei Monat. 

"Aber du warst mehr als zwei Jahre auf der Flucht." 

"Ja. Aber immer nur bissi Schule. Immer kurz."

"Wieso frei? Ich muss Schule. Ich muss lernen"

Ahmed ist zehn Jahre alt, geht in die 1B der fünften Schulstufe, aber wir fangen damit an, im Zahlenraum zehn zu rechnen, das Alphabet zu lernen, einen Stift zu halten und Buchstaben zu schreiben. Wirklich ausgebildet in der Alphabetisierung von Kindern ist bei uns in der Schule niemand.

Ahmed lässt sich von der unmöglich erscheinenden Aufgabe die Motivation nicht nehmen. Einige Tage vor dem 8. Dezember, Maria Empfängnis, macht der Sprachlehrer die Gruppe in einer Förderstunde darauf aufmerksam, dass nächsten Freitag frei sei. Ahmed schaut ungläubig, haut auf den Tisch und sagt: "Wieso frei? Ich muss Schule. Ich muss lernen!" 

Ahmed kam noch vor der Einführung der Deutschklassen nach Österreich. Jedoch bekamen auch da Schülerinnen und Schüler, die nicht Deutsch als Muttersprache haben und weniger als fünf Jahre in Österreich sind, extra Sprachförderung. Je nach Niveau waren das drei bis vier oder sogar elf Stunden pro Woche, wo in kleinen Gruppen gezielt am Spracherwerb gearbeitet wird. In allen anderen Stunden war Ahmed Teil der Klassengemeinschaft und Teil des regulären Unterrichts. Mit der neuen Regelung, den Deutschklassen, ist das für außerordentliche Schüler nicht mehr der Fall. Sie gehen jetzt 20 Stunden pro Woche in eine extra Deutschklasse, in der rein am Spracherwerb gearbeitet wird. Mathematik-, Geografie- oder Geschichtsunterricht haben sie keinen mehr. Erst, wenn sie den halbjährlichen Einstufungstest positiv absolvieren, dürfen sie in eine normale Klasse. 

Differenzierter Unterricht ist notwendig, um die Herausforderung, in zwei Jahren alles aufzuholen, bewältigen zu können. Bei Ahmed konnten wir noch autonom entscheiden, welche Stunden er in der Klasse verbringt und in welchen er besser Deutsch lernen sollte. Heute ist das nicht mehr möglich. Diese Flexibilität gibt es nicht mehr. Darüber hinaus merken Kinder, ob sie dazugehören, ob sie Teil der Gruppe, der Klasse sind, oder ob sie immer extra, anders und getrennt behandelt werden. 

Außerordentliche Schüler brauchen einen differenzierten Unterricht und nicht nur Deutschstunden.
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Und die Eltern? 

Trotz der zusätzlichen Förderung und der Differenzierung kann die Schule alleine nicht das Verlangte leisten. Dazu braucht es die Zusammenarbeit mit den Eltern. Ahmeds Eltern sind ebenso motiviert wie er, kommen zu jedem Elternabend, den Kinder-Eltern-Lehrer-Gesprächen und extra Terminen. Ahmed soll in die Nachmittagsbetreuung gehen, damit er noch mehr Deutsch lernen könne, er soll auf allen Ausflügen und Projekttagen mitfahren. Kein Anzeichen von Feindseligkeit oder Angst gegenüber der neuen Kultur und Sprache. Das viel größere Problem: Das alles kostet etwas. Es gibt zwar Unterstützung von der Gemeinde und vom Elternverein, das Geld der Grundsicherung oder der gekürzten Mindestsicherung reicht aber nicht, um an diesen integrationsfördernden Maßnahmen teilzunehmen. Also stellen wir das Geld privat auf. 

Zwei Jahre: Unmöglich?!

Die Voraussetzungen sind nicht schlecht. Ahmed ist motiviert, die Eltern aktiv eingespannt und alle Lehrerinnen und Lehrer versuchen ihr Bestes. Dennoch ist es aufgrund des vorgegebenen Rahmens und systemischen Hürden kaum möglich, dass Ahmed all das in zwei Jahren schafft. 

Die starre Regelung, dass Schüler nur zwei Jahre als "außerordentlich" geführt werden dürfen, führte und führt auch jetzt noch zu großen Schwierigkeiten. Auch vor Einführung der Deutschklassen hatten viele Kinder Probleme, nach zwei Jahren des außerordentlichen Status, positive Noten zu bekommen. Ob die Situation dadurch verbessert wird, dass die Kinder nun zwei Jahren keinen fachlichen Unterricht außer Deutsch bekommen, ist fraglich. Dazu kommt noch, dass es jetzt möglich ist, dass ein Kind nach seiner außerordentlichen Zeit, in der es nun nicht mehr aufsteigen darf, bereits in die dritte Klassengemeinschaft kommt. 

Diese Neuanfang ist für das Kind ebenso schwierig wie für das Lehrkörperteam der neuen Klasse, das das Kind, die Fördermaßnahmen und die individuellen Leistungsdefizite erst mal kennen lernen muss, um gezielt fördern zu können. 

Nicht selten steigt dadurch die Frustration der Kinder. Durch die sinkende Motivation wird der "Abstand" zu den "Anderen" noch größer. Die starre Vorgabe von zwei Jahren führt also oftmals zu einer noch größeren Separation der Kinder, erhöht die Bildungsungerechtigkeit und verwehrt diesen Kindern die Chance, sich in einer angemessenen Zeit frei entfalten zu können. 

Was tun? 

Es ist realitätsfremd, allen Kindern, die nach Österreich kommen, die Vorkenntnisse negierend, immer nur zwei Jahre Zeit zu geben. Kinder, die schon alphabetisiert sind, die schon in der Schule waren, brauchen manchmal keine zwei Jahre, da sie schneller benotet werden können. Andere hingegen, wie Ahmed, benötigen mehr Zeit. 

Es muss ein System geschaffen werden, in dem der Status als "außerordentlich" je nach Vorkenntnissen und Leistungsstand des Kindes flexibler gestaltet werden kann. Es muss in der Autonomie der zuständigen Schule und der verantwortlichen Lehrer liegen zu entscheiden, wie lange ein Kind den außerordentlichen Staus braucht, wie lange die Fördermaßnahmen notwendig sind und ab wann das Kind benotet werden kann. Die Kinder müssen wieder Teil ihrer Klassengemeinschaft bleiben können, dabei die entsprechende extra Förderung und Zeit bekommen, um auf das Niveau der anderen aufzuschließen. Entscheidend dabei ist, dass sowohl die Schule durch Sprachlehrer, Beratungslehrer und Alphabetisierungskurse, aber auch die Eltern die finanziellen Ressourcen bekommen, um die Integration der Kinder sinnvoll fördern zu können. 

Dann wäre das alles möglich. Vielleicht nicht immer in zwei Jahren, aber es sind außergewöhnliche Leistungen, die diese Kinder vollbringen. (Kilian M., 22.11.2019)

Kilian M.  (Pseudonym, Name der Redaktion bekannt), 24, ist seit drei Jahren Lehrer an einer NMS in Niederösterreich.

*Namen der Kinder geändert

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