Der Gründer der Nouvelle Cuisine galt als berühmtester Koch seiner Zeit. Er erneuerte die klassische französische Küche und Patisserie, indem er sie auf das Niveau der schönen Künste erhob. Er erleichterte die damals allgegenwärtigen Saucen, reduzierte den Einsatz von Gewürzen, setzte auf frisches Gemüse, auf weniger Ingredienzien und schuf einen Küchenstil, der den Geschmack der Hauptzutaten in den Vordergrund stellte.

Die Rede ist hier allerdings nicht, wie man annehmen könnte, vom im Vorjahr verstorbenen Paul Bocuse, sondern von Marie-Antoine Carême, der 200 Jahre früher lebte und unter anderem für seine kunstvollen Dessertkreationen bekannt war.

Dass man Carêmes Arbeit schon zu Lebzeiten als Nouvelle Cuisine bezeichnete, beweist, dass Kreation und Erneuerung seit jeher wesentliche Bestandteile der gehobenen Küche sind. Von "neuer Küche" sprach man gar noch früher, und zwar im 17. Jahrhundert. Damals war es François Pierre de La Varenne, der den vorherrschenden Küchenstil des Mittelalters entstaubte, indem auch er Gewürze zurückschraubte, neuartige Gemüse wie Spargel und Artischocken einsetzte und Garzeiten verkürzte.

Die Franzosen

Dass ein Großteil dieser Erneuerungen im Lauf der Geschichte auf Leichtigkeit, Bekömmlichkeit und Frische abzielte, ist dabei genauso eine Konstante wie die Tatsache, dass es sich bei den Erneuerern um Franzosen handelte. Das sollte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts so bleiben. Quer über den Globus dominierte bis dahin das französische Modell die gehobene Gastronomie.

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es Auguste Escoffier, der die "Haute Cuisine" kodifizierte und Techniken und Abläufe erfand, die sich weltweit durchsetzten. In den 1970ern brach Paul Bocuse aus Escoffiers hummerlastigem und inzwischen etwas angestaubtem und enggestecktem Raster aus, indem er mit einem einfachen und inzwischen legendären Fisolensalat einen neuen Küchenstil einleitete, der als die eigentliche Nouvelle Cuisine in die Geschichtsbücher einging.

Dass dem Begriff inzwischen im Deutschen ein eher negativer Unterton anhaftet, liegt wohl an einem Missverständnis. In diesem Sinn wäre Nouvelle Cuisine gleichbedeutend mit winzigen Portionen auf übergroßen Tellern, mit typisch französischem Chichi und weltfremder Intellektualität.

Was bei diesen Assoziationen übersehen wird, ist der erhebliche Unterschied zwischen dem Prinzip eines Gasthauses, Bistros oder einer Trattoria einerseits und jenem eines gehobenen Restaurants andererseits. Während erstgenannte Lokaltypen das Reich der "Spezialität" sind und darauf abzielen, den Gast mit Vertrautem zu umschmeicheln, geht es beim zweitgenannten darum, ihn mit Neuem und Ungewohntem zu überraschen, anzuregen, zu fordern, ja gegebenenfalls sogar zu schockieren.

Neue Einflüsse

Die Alleinherrschaft des französischen Küchenmodells endete Anfang der 1980er-Jahre, als das japanische an Bedeutung gewann. Und zwar, obgleich es sich dabei viel weniger um Neuerungen als um traditionelle japanische Küche handelte, die nur dank ihrer Exotik dem westlichen Gast als "neu" erscheinen musste.

Im Vordergrund standen hier unter anderem wieder die Reduktion auf dem Teller sowie Frische und Bekömmlichkeit, diesmal allerdings gepaart mit für westliche Augen und Gaumen anfangs gänzlich ungewohnten japanischen Zubereitungs-, Schnitt- und Präsentationstechniken.

Um die Jahrtausendwende begann die kurzlebige Hochblüte des spanischen Modells. Dessen Ursprung war das inzwischen geschlossene Restaurant El Bulli des Katalanen Ferran Adrià.

Seine Küche zeichnete sich in erster Linie dadurch aus, dass sie mit Techniken experimentierte, die bei der Essenszubereitung bislang unbekannt waren, und sich auch dem Einsatz von Chemie nicht verwehrte, was dem Gast ein völlig neues Geschmacks- und Konsistenzerlebnis bot. Bekannt wurde der Kochstil als Molekularküche, ein Begriff, den Adrià selbst stets ablehnte.

Auch hielt sich der allzu innovative Trend nicht lange – was teils an den äußerst komplexen Techniken lag, die zahlreiche Nachahmer dazu brachten, sich mit der Exekution diverser Schäumchen in Eprouvetten und Kanülen bis zur Lächerlichkeit zu übernehmen. Zudem erkannten einige Köche zum Glück bald, dass Geschmäcker und Konsistenzen aus dem Chemiekasten wohl doch nicht die Antwort auf die Ernährungsfragen unserer Zeit sein können.

Unerschöpfliches Zutatenreservoir

Vor allem wenn man bedenkt, dass nur ein Bruchteil der hunderttausenden essbaren Pflanzen, die es weltweit gibt, tatsächlich gegessen wird und allein die übrigen Pflanzen für einen experimentierfreudigen Koch ein quasi unerschöpfliches – und vor allem völlig naturbelassenes – Zutatenreservoir bilden.

Nicht zuletzt war es diese Erkenntnis, die Ende der Nullerjahre zu einem gegensätzlichen Trend führte, dessen berühmtester Vertreter ausgerechnet ein ehemaliger Schüler Adriàs war. René Redzepi leitete im Noma in Kopenhagen das Zeitalter der Nordischen Küche mit ihrem quasi dogmatischen Natur- und Regionsbezug ein und avancierte zur Hipster-Ikone.

Im Noma werden lokale und saisonale Zutaten verarbeitet – hier ein Gericht aus dem Herbstmenü.
Foto: Noma/Ditte Isager

Das Prinzip selbst war so neu nicht. So bestand beispielsweise in Frankreich schon von jeher neben der eng mit Paris verbunden Haute Cuisine auch die Cuisine de Terroir, die auf lokale Zutaten und regionale Rezepte setzte.

Innovativ war Redzepis Beitrag vielmehr aus zwei Gründen. Zum einen, weil er erstmals das Konzept der Regionalität auf die Haute Cuisine anwendete. Zum anderen, weil er lokale und saisonale Ingredienzien aus dem klimatisch wie kulturgastronomisch nicht gerade bevorteilten Nordeuropa bezog.

Zudem brachten er und die weiteren nordischen Köche ihre eigene Form der Ästhetik ein, für die ihre Region schon lange zuvor etwa bei der Tafelkultur oder im Design bekannt war. Und sie setzten auf den typisch nordischen ungezwungenen Empfang und Umgang mit Gästen.

Ungezwungener Zugang

Und heute? Nun, unbestreitbar hat sich das skandinavische neben dem französischen und japanischen als drittes bedeutendes Modell der gehobenen Küche etabliert. Wenngleich weniger dank neuer Techniken – diese übernahm es weitgehend von den beiden anderen – als durch Ästhetik, Naturbezug (wie Flechten oder Baumzapfen auf dem Teller) und ungezwungeneren Zugang.

Allerdings hat sich auch das Konzept des Neuen selbst gewandelt. In unserer schnelllebigen und von sozialen Medien wie Instagram geprägten Zeit ist der Druck auf die Köche, ständig Neuerungen zu bieten, um im Gespräch zu bleiben, unaufhörlich angewachsen. Signature-Dishes, also Gerichte, die zu den Standards eines Kochs zählen, gibt es kaum noch. Speisekarten – und mit ihnen die Möglichkeit zur Auswahl – sind weitgehend abgeschafft.

Stattdessen sitzt man in vielen Fällen vor einem ständig wechselnden "Degustationsmenü" aus unzähligen Gängen, das in erster Linie dazu gedacht ist, die (vermeintlich) virtuose Kreativität des Küchenchefs kataloghaft zu bebildern.

Auf der Strecke bleibt dabei oftmals der überforderte Gast, für den die schier endlose Speisenabfolge nicht selten zum Ausdauer-Parcours anstatt zum kulinarischen Erlebnis gerät. Doch derartige Ausartungen drohen vermutlich jeder kreativen Handlung, wenn die Form, in diesem Fall der Zwang zum Neuen, über den Inhalt siegt. (Georges Desrues, RONDO, 17.1.2020)