Dominic Thiem hat einen großen Schritt nach vorne gemacht in dieser Saison.

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Novak Djokovic war fix und foxi.

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Herwig Straka (r.) beobachtet, dass die Gegner mehr und mehr Respekt vor Dominic Thiem haben.

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London – Dominic Thiem schlenderte nach dem Match durch die Katakomben: "Alter Schwede, ich hab' gedacht, ich zuck' aus."

Ungefähr eine halbe Stunde zuvor: Tiebreak, dritter Satz, Thiem gegen Novak Djokovic, die Entscheidung, der Showdown, die Exegese des Duells, 6:4. Matchball, das heißt, Thiem serviert auf den Gewinn eines packenden Tennisspiels. Es fehlt noch ein Punkt. Thiem muss dem besten Rückschläger, Djokovic, einen Auftrag geben, sich selbst mit dem Service in den Vorteil ballern. Vielleicht ein Ass?

Thiem zieht durch, Service durch die Mitte, eine Rakete. Thiems Körper spannt sich an, er ist bereit für den Jubel. Hinlegen, Schläger weg, einfach genießen. Der Linienrichter macht einen Strich durch die Rechnung. Aus. Es wird überprüft, ob der Ball auf der Linie, im Feld war. Das Hawkeye kommt zum Einsatz. Es sind bange Sekunden, die für viele zu gefühlten Minuten werden. Ein kurzer Abstecher in die Ewigkeit. Der Österreicher stützt sich auf seinen Schläger. Alles blickt auf die Videoleinwand. Zoom, es ist knapp. Noch mehr Zoom, es ist richtig knapp. Am Ende fehlen ein paar Millimeter zur Perfektion. Der Ball ist nicht auf der Linie, Thiems Gesicht fällt kurz auf den Boden der O2-Arena. "Ich hab' gedacht, ich zuck' aus."

Das Pendel im Tennis

Dass Österreichs Nummer eins nach der knappen Entscheidung beim ersten Matchball nicht in eine schwere Depression gefallen ist, zeugt von Reife. Tennis ist ein Kopfsport. Und dass er den zweiten Matchball nutzte, auch unter Mithilfe von Djokovic, der nach einer längeren Rallye die Vorhand ins Netzt setzte, unterstreicht ebendiese. Jene knappen Entscheidungen sind das Pendel in Tennismatches auf höchstem Niveau. Es geht nicht nur darum, Winner zu schlagen, Volleys zu setzen und Bälle zu erlaufen. Das können viele. Tennis aber ist immer eine Achterbahn. Rückschläge und Schwächephasen sind part of the game. Das gilt es zu lösen, sich nicht unterkriegen zu lassen, auf sich und seine Stärken zu vertrauen.

Thiem hat am Dienstagabend fast alles gelöst, war nah dran an der Perfektion seines Spiels. "Es war vielleicht das beste Match meiner Karriere", sagte er später. Auch wenn da ein bisschen die Euphorie des Sieges mitschwingt, könnte man das unterschreiben. Der 26-jährige Niederösterreicher spielte Angriffstennis vom Feinsten, fast jeder Ball war eine Ansage, wenige Alibis, fast immer volles Karacho. Beinahe übersehen wurde dabei, dass Thiem auch seinen Slice als Waffe einsetzte. Das ist nicht neu, aber augenscheinlicher.

Schon gehört?

Der Albtraum

Denn ihm gegenüber stand die Nemesis des Offensivtennis. Djokovic ist der beste Verteidigungsspieler der Welt. Der Floyd Mayweather, das Inter Mailand unter Mourinho des Tenniszirkus. Djokovic ist ein Albtraum für sein Gegenüber: Er stellt sich auf das Spiel des Gegners perfekt ein, nutzt Schwächen sofort und dreht es zu seinem eigenen Vorteil. Man kommt nicht durch – noch viel schlimmer: Die Bälle fliegen so giftig zurück, dass sich das Momentum dreht. Ein Alibiball, ein Schlag, der nicht am Limit ist, und schon hat Djokovic die Überhand. Es geht so schnell. Es wirkt so leicht beim 16-fachen Grand-Slam-Sieger. Thiem schlug bei seinem Sieg über Djokovic 50 Winner. Eine Statistik, die man sich tätowieren lassen könnte. Die 44 unerzwungenen Fehler sind Kollateralschaden, gegen Djokovic muss man ans Limit und darüber hinaus gehen. Auf der anderen Seite steht eine Wand mit eingebauter Ballmaschine – auf höchster Stufe.

Nach seinen zwei Gruppensiegen gegen Roger Federer und Djokovic steht Thiem schon vor seiner abschließenden Partie gegen den Italiener Matteo Berrettini als Gruppensieger fest. Er zieht als erster Österreicher ins Halbfinale eines Finalturniers ein. Ein Meilenstein, der bestätigt, was Insider schon länger predigen: Thiem kann nicht nur Sand. 2019 gewann er drei Turniere auf Hartplatz. Das Image der Sandwühlmaus dürfte spätestens mit den Siegen gegen Federer und Djokovic in London ad acta gelegt werden. Wirklich jetzt.

"Wachablöse"

Thiem hat in London bereits 400 ATP-Zähler gesammelt, für den dritten Matchsieg in der Gruppe gäbe es weitere 200. "Ich werde auf jeden Fall alles geben am Donnerstag. Das ist ganz klar. Wenn ich die 200 Punkte noch mache, dann bleiben die das ganze Jahr stehen", erklärte Thiem. Begeistert war auch sein Manager Herwig Straka, der nach dem verlorenen Auftaktsatz im Tiebreak gegen Djokovic gar nicht mehr auf Thiem gewettet hätte. "Das war Werbung für Dominic Thiem in eigener Sache. Hier vor diesem Weltpodium, wo die Besten der Welt spielen, so ein Match abzuliefern, das ist dann schon ein wahrer Champion. Wenn man zur richtigen Zeit die Spiele gewinnt, gegen Roger und jetzt auch gegen Novak, und das auch hintereinander, das ist ganz großes Kino."

Straka erkennt sogar den "Ansatz einer Wachablöse": "Was in beiden Matches schön zu sehen war, ist, dass jetzt die Gegner beginnen, Respekt zu haben. Das war etwas, was wirklich neu ist." Er habe in beiden Spielen das Gefühl gehabt, dass die Gegner extrem hohen Respekt haben. "Novak hat im dritten Satz am Anfang wirklich nervös gewirkt. Das ist ein tolles Signal und schon ein bisserl etwas wie die Wachablöse." (Andreas Hagenauer, 13.11.2019)