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Große Literatur: Auf über 1100 Seiten erzählt die Polin Olga Tokarczuk vom Erbe der Frankisten. Ihr Werk ist auch eine Projektionsfläche für die Probleme der Gegenwart.

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Als Olga Tokarczuk bei der Frank furter Buchmesse auf dem Blauen Sofa saß, sagte die polnische Schriftstellerin sinngemäß, sie halte Grenzen für widersinnig und absurd. Sie meinte damit vornehmlich die Grenzen zwischen Ländern und Kulturen.

Die frischgebackene Literaturnobelpreisträgerin wohnt selbst in einem Ort an der polnisch-tschechischen Grenze. Und sie hat schon häufig zu Protokoll gegeben, dass sie gar nicht bemerken würde, wenn sie diese Grenze überschreite. Auch ihr bereits in Polen im Jahr 2014 erschienener Roman Die Jakobsbücher (Kampa-Verlag) ist eine Grenzüberschreitung. Eine gewaltige.

Das fast 1200 Seiten starke Werk sprengt die Grenzen geistesgeschichtlicher und religiöser Ideen sowie kulturelle, sprachliche und formelle Barrieren. Wer sich als Lesender auf diesen magischen Rausch einlässt, wird belohnt: mit einem Feuerwerk an Poesie, Sublimierung und Transzendenz.

Rabbiner, Prophet, Messias

Das Buch mäandert um die Lebens- und Wirkungsgeschichte von Jakob Frank (1726–1791), der selbst einer war, der Grenzen in alle mögliche Richtungen niederriss. Im Roman heißt es über den Außenseiter: "Nie spricht Jakob, wie die Weisen sprechen, in langen, verschlungenen Sätzen, in denen es wimmelt von seltenen, bedeutungsschweren Worten, mit denen sie sich ständig auf Zitate aus den Schriften beziehen. Jakob spricht kurz und klar, wie jemand, der vom Handel auf den Märkten lebt, wie jemand, der ein Fuhrwerk lenkt. Ständig scherzt er, doch weiß man nie, ob es wirklich Scherze sind oder ernst gemeinte Urteile."

Als Rabbiner, Prophet, Kabbalist, Alchemiker und als Messias – was zur damaligen Zeit ein echter Trend war – trat er für eine Erneuerung des Judentums ein. Er sah sich als Wiedergeburt des biblischen Jakobs und von Schabbatai Zwi, der Mitte des 17. Jahrhunderts den Sabbatianismus erdacht hatte.

Teilweise wurden Jakob Frank und seine Jünger, deren Leben in dem Roman ebenfalls erzählt werden, vom polnischen König unterstützt, weil sich Franks Lehren gegen das orthodoxe Judentum richteten. Dann aber landete er im Gefängnis, musste schließlich fliehen; die Ideen des Frankismus waren allerdings noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts einflussreich.

Es braucht Geduld und Hartnäckigkeit

Bereits an diesem Exkurs wird man bemerkt haben: Diese Welt, die Olga Tokarczuk sprachlich so gekonnt austariert und abfühlt, ist eine für uns fremde. Auch wenn sich die Schriftstellerin um eine sinnliche Lesbarkeit bemüht, braucht es Geduld und Hartnäckigkeit, um den Diskursen aus der jüdischen Ideengeschichte und den Denkströmungen und kulturellen Versatzstücken aus Islam oder Katholizismus folgen zu können.

Der Leser steigt dabei hinab in die verwinkelte Geistes- und Kulturwelt des 18. Jahrhunderts. Geografisches Scharnier der Geschichte ist Podolien, wo Jakob Frank geboren wurde. Eine Region, heute zur südwestlichen Ukraine gehörend, die damals Teil des polnisch-litauischen Doppelstaates war, der 1795 von den imperialistischen Gelüsten des Zarenreiches, Habsburgs und Preußens endgültig zerrissen wurde.

Olga Tokarczuk bringt Antisemitismus, Judenpogrome und korrupte katholische Geistliche deutlich zur Sprache.
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An den Rändern dieses literarischen Experimentierraumes schieben sich das exotische Osmanische Reich und am Ende des Buches das Heilige Römische Reich deutscher Nation, wo Frank als Baron von Offenbach 1791 verstarb, in das märchenhafte Gebräu dieser Geschichte.

Es ist eine Welt der göttlichen Herrscher, der listigen Scharlatane, der dunklen Magier und der charismatischen Wundertäter, eine Welt des Glaubens und Aberglaubens, eine Welt noch abseits von Vernunft, Wissenschaft und Faktizität, eine Welt, die sich in toxischer Unruhe und unverkennbar im Aufbruch in die Ungewissheit befindet.

Zwischenräume

Die Nobelpreisträgerin Tokarczuk weiß dies durch ein ganzes Arsenal an Sprachmitteln, Bildern, Metaphern, Exkursen oder Szenen zu versinnbildlichen. Gleich zu Anfang landen Leser und Leserinnen in einer obskuren Hochzeitsgesellschaft, die vom Sterben der Seherin Jenta begleitet wird.

Neues wird geboren, Altes vergeht, Ungewissheit und Ängste entstehen. Zwischenräume tun sich auf, die Tokarczuk immer wieder nutzt, um die Ebene des Realismus zu verlassen und in geisterhafte Sphären aufzusteigen.

Die Jakobsbücher bieten eine dankbare Projektionsfläche für die Spannungen und Probleme unserer Gegenwart, und auch für die der Vergangenheit. Schließlich präsentiert die Autorin kein romantisch-nostalgisches Bild eines multikulturellen Staates, wie dies beispielsweise ihr polnischer Literaturnobelpreiskollege Henryk Sienkiewciz im 19. Jahrhundert in seinen prägenden Romanen über den polnisch-litauischen Feudalstaat getan hat.

Tokarczuk bringt Antisemitismus, Judenpogrome und korrupte katholische Geistliche deutlich zur Sprache, sowie habgierige Magnaten, die Armut und Unterdrückung der Tagelöhner und die alltäglichen Animositäten zwischen den Kulturen und Religionen der Rzeczpospolita.

Gigantomanische Literatur

Olga Tokarczuk, "Die Jakobsbücher". Roman. Übersetzt aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. 42,– Euro / 1184 Seiten. Kampa-Verlag, Zürich 2019

Als das Buch 2014 in Polen erschien, brachte ihr dieser alternative Blick auf die polnische Geschichte Hass-E-Mails und Morddrohungen von der extremen Rechten in ihrer Heimat ein.

In Angesicht einer derart gigantomanischen Literatur wäre es töricht, dem Roman eine einzige Schlüsselbotschaft anzuheften. Die Jakobsbücher ist ein Roman, der unsere Vorstellungskraft von dem sprengt, was Literatur in ihren größten Momenten vermag. (Ingo Petz, 16.11.2019)